„Irgendwie sind wir heute alle Thatcherianer“, sagte David Cameron an der Beerdigung der Eisernen Lady. Zu 1% hat er Recht: Sogar für die Linken ist heute ein Trauertag — sie verlieren liebstes Feindbild. Zu 99% hat er Unrecht: Auch nach ihrem Tod ist Maggie Thatcher die meistgehasste Britin.

JUSO-Präsident und SP-Vize David Roth brachte am 8. April auf seiner Facebook-Seite einen reichlich makabren Toast auf Maggies Tod aus: „Sie desindustrialisierte Grossbritannien, zerschlug die Gewerkschaften, gab alle Macht dem Finanzmarkt und war eine gute Freundin von Massenmörder Pinochet. Ich glaub es ist nicht zynisch heute ein Bier auf Maggies besten Tag zu trinken.“ Nach diesem Statement brach in der Zentralschweiz ein Mini-Shitstorm über den SP-Politiker herein — und ich ärgerte mich ein erstes Mal, dass über Stilfragen diskutiert wurde und nicht über das, was Thatcher den Briten und Britinnen angetan hat.

WSJ-News-Hub-Beitrag über den Aufschwung von Judy Garland’s Song „Ding dong – the witch is dead“: Nach Thatchers Tod ist aus „Zauberer von Oz“ die Nummer 1 der UK-Charts

Die polarisierende Politikerin spaltet die britische Gesellschaft sogar noch über ihren Tod hinaus: Die einen sorgen dafür, dass die Eiserne Lady ein 10 Millionen Pfund teures Staatsbegräbnis mit viel militärischem Pomp bekommt, obwohl der britische Staat an allen Ecken und Enden sparen muss. Ein Hohn für die vielen Opfer des Thatcherismus, die sicher auch heute noch keine Thatcherianer sind. Den passenden Kommentar zum Deluxe-Begräbnis lieferte Filmemacher Ken Loach: „Wir sollten ihre Beerdigung privatisieren, die Ausrichtung ausschreiben. Und der billigste Anbieter kriegt den Zuschlag.“


Screenshot der Google-Bildersuche nach „the witch is dead ding dong“: Nach Thatchers Tod ist Judy Garland’s Song aus „Zauberer von Oz“ die Nummer 1 der UK-Charts, die Version von Ella Fitzgerald führt die UK-Charts der Jazz-Songs an. Quelle: www.webpronews.com

Andere wiederum feiern den Tod der alten, pflegebedürftigen Ex-Politikerin wie den Tod der verhassten Hexe im Märchen. Warum ist Maggie Thatcher auch 23 Jahre nach ihrem Rücktritt als Premierministerin (1979 – 1990) immer noch so verhasst?

  • Gemäss Wikipedia privatisierte sie zahlreiche Staatsunternehmen (u.a. British Telecom, British Petroleum, British Airways), sie ruinierte den National Health Service, der zuvor als eines der besten öffentlichen Gesundheitssysteme bekannt war. Nach der Privatisierung der Wasserwerke stiegen die Preise für Trinkwasser um 46%, während die Qualität sank und das Leitungsnetz vernachlässigt wurde. Die Privatisierung reduzierte zwar die Staatsquote und verbesserte das Angebot für die Reichen, aber für die grosse Mehrheit wurden die Leistungen der privatisierten Unternehmen teurer und schlechter.
  • Sie zerschlug die Macht der Gewerkschaften, die — zugegeben — manchmal absurde Auswirkungen hatte (z.B. dass auf Dieselloks zwei Leute mitfahren mussten, weil es auf Dampfloks mit Lokführer und Heizer zwei Jobs gegeben hatte). Beim Streik der britischen Bergarbeiter (1984/85) gegen die geplanten Schliessungen und Privatisierungen ihrer Zechen blieb sie hart. Nach über einem Jahr musste die National Union of Mineworkers (NUM) aufgeben und viele Bergarbeiterfamilien waren ruiniert. Die Entmachtung der Gewerkschaften und die Deregulierung des Arbeitsmarkts führte aber nicht zu einer Senkung der Arbeitslosenquote. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1983 mit 12.5% ihre Spitze und sank erst gegen Ende der Ära Thatcher.
  • Mit dem Big Bang im Oktober 1986 läutete sie die Deregulierung der Finanzmärkte ein. An der Londoner Börse begann der elektronische Wertpapierhandel und der Finanzplatz London, der zuvor gegenüber New York ins Hintertreffen geraten war, startete seine Aufholjagd. Mit dem Big Bang begann aber auch der Kasino-Kapitalismus. Finanzexperten sehen in der Entfesselung der Finanzmärkte eine Ursache für globale Finanzkrise der letzten Jahre.
  • Ebenfalls 1986 schaffte Maggie Thatcher den GLC, den Greater London Council, und fünf weitere von Labour dominierte Stadtregierungen ab. Damit verloren die 32 Londoner Stadtteile ihren Zusammenhalt und London wurde zur weltweit einzigen Metropole ohne zentrale Verwaltung. Damit wurde die Stadtentwicklung privatisiert: Die Erneuerung der 22 km2 grossen Londoner Docklands beispielsweise wurde der London Docklands Development Corporation überlassen, die als Quango (Quasi-autonomous non-governmental organisation) sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen konnte. Die Metropole litt so sehr unter der mangelnden Koordination, dass unter Tony Blair 1999 per Volksabstimmung wieder eine Behörde für gesamt London eingesetzt wurde.
  • Vollends unbeliebt machte sich die eiserne Lady, als sie 1989 die ungerechte poll tax (Kopfsteuer) einführen wollte — seit 1380, als König Richard II. mit einer Kopfsteuer die Peasants’ Revolt ausgelöst hatte, versuchte dies niemand mehr. Millionen von Briten weigerten sich, die Steuer zu bezahlen. Die Proteste gipfelten am 31. März 1990 in der grossen Anti-poll-tax-Demo in London, als berittene Polizei brutal in die friedlich demonstrierende Menge ritt und gewalttätige Ausschreitungen auslöste. Letztlich war die poll tax das Ende der Regierung Thatcher.


Der knapp 6-minütige Ausschnitt aus „The Battle of Trafalgar“ (Dokumentarfilm von Despite TV, 54 Min., 1990) zeigt die Polizeibrutalität aus der Sicht von Augenzeugen. Auch dreissig Jahre nach der Anti-poll-tax-Demo wirken diese dokumentarischen Videoaufnahmen verstörend.

Maggie Thatcher ist also nicht umsonst die meistgehasste Britin. Deshalb kann ich mich dem unbekannten Sprayer nur anschliessen: Eiserne Lady — roste in Frieden!

Der Trafalgar Square (brutale Polizeigewalt gegen friedliche Demo)
auf der Kulturflaneur-Karte

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By the way: Am 31. März 1990 war ich mit einem Freund auf dem Trafalgar Square. Als Demotouristen wollten wir den Protest gegen die verhasste poll tax live miterleben. Was wir sahen, war eine riesige, aber friedliche Demonstration. Von der im Video dokumentierten Polizeigewalt haben wir nichts mitbekommen, weil wir auf den Flughafen mussten.

Den Produzenten des Dokumentarfilms kenne ich persönlich. Er ist einer, der nicht hasserfüllt an die Sache geht, sondern relativ cool Stellung bezieht. Ich bin mir deshalb sicher, dass die Polizeigewalt in diesem Video keineswegs aufgebauscht ist.