Online-Krtitiken entsprechen einem Bedürfnis: Im Online-Kulturmagazin www.perlentaucher.de werden vor allem Bücher und Kinofilme besprochen, auf www.nachtkritik.de Sprechtheater-Produktionen aus dem deutschen Sprachraum und www.kulturteil.ch bringt Kulturkritiken aus der Zentralschweiz. In der Schweiz gibt es jetzt eine neue Plattform für Theaterkritiken: www.theaterkritik.ch*).
Diese Online-Kritik-Seiten sind schneller als die Printmedien, die ihre Premierenkritik frühestens am übernächsten Tag ins Blatt rücken können. Aber noch schlimmer ist der schleichende Abbau der Kulturberichterstattung in den Printmedien. Wurden früher Produktionen der freien Theaterszene oft in mehreren Zeitungen besprochen, finden es die lokalen Monopolblätter heute nicht mehr nötig, ausführlich über das regionale Kulturleben zu berichten. In den Feuilletons werden tendenziell nur noch kulturelle Themen von überregionaler Bedeutung behandelt, so dass viele Theaterproduktionen gar keine Kritiken mehr bekommen — und so von der Öffentlichkeit auch nicht wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass Theaterkritiken oft gar keine Kritiken mehr sind, sondern nur noch bessere Matchberichte von PraktikantInnen.
Diesem Missstand will www.theaterkritik.ch*) nun abhelfen. Theatergruppen können für ihre neuen Produktionen Kritiken bestellen. Für 600 Franken bekommen die Gruppen eine Vorschau mit Projektbeschrieb und Foto sowie zwei professionelle Kritiken, die am Tag nach der Premiere bis 14 Uhr ins Netz gestellt werden. Ganz unproblematisch ist dieses Finanzierungsmodell nicht, heisst es doch: Wes‘ Brot ich ess‘, des‘ Lied ich sing. Ob dieser Mangel mit zwei Kritiken aus verschiedenen Standpunkten ausgeglichen werden kann, wird sich zeigen. So oder so aber ist die Intitiative von www.theaterkritik.ch*) zu begrüssen, bietet sie doch eine echte Alternative zur Nichtkritik in den Printmedien.
Letztlich haben nämlich Theatergruppen, die auf bestellte Kritiken angewiesen sind, das gleiche Problem wie verschuldete Nationalstaaten, die ohne Rating einer Ratingagentur an den globalen Finanzmärkten keine Kredite aufnehmen können und deshalb bei den grossen Ratingagenturen ein Rating in Auftrag geben müssen… (vgl. Wer ratet eigentlich die Ratingagenturen?).
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*) Das Projekt www.theaterkritik.ch wurde im Oktober 2013 eingestellt — die Archiv-Version der Website ist aber unter den Arbeiten von bytes & bones, die das Projekt in der Entstehung begleiteten, noch nachzuschauen.
16. November 2011 um 22:48 Uhr
Erstens: was tut denn theaterkritik.ch um zu mich als potenziellen Theatergänger mit den Kritiken zu erreichen — twitter, facebook, … email-Newsletter? Heute: nichts. Ohne diesen Blogpost hätte ich nicht mal davon gewusst. Wenn ich heute Theaterproduzent in der Schweiz wäre, würde ich schon deshalb keinen halben Rappen für theaterkritik.ch bezahlen.
Zweitens: Willkommen im Jahrzehnt der Plattform-Business-Modelle — lass mich mal nachrechnen:
600 für 2 KritikerInnen, die je 2500-4000 Zeichen schreiben (ca. 70 bis 110 Zeilen à 37 Zeichen). Mit einem Füfzgi pro Zeile riskieren die Portalbetreiber Kosten von 2 x Fr. 55 für den Text. Rechnen wir grosszügige 100 % Unkosten obendrauf (jemand, der regelmässig ins email schaut und zeitgerecht die Texte freischaltet, Servergebühren) bleiben pro bestellte Kritik sicher gute Fr. 300 — sozusagen Reingewinn, zuzüglich Subventionen vom BAK und Stiftungen (gemäss „about“).
Ob ich das als Theaterproduzent witzig finden täte? Fr. 600 zahlen Kleinkunstbetriebe möglicherweise gerne für extra Publicity. Im Budget einer echt freien Produktion sehe ich dieses Posten aber nicht auftauchen — oder aber für viel wirksamere PR und ohne, dass bei genauem Nachrechnen irgendwo die Hälfte des Geldes unwirksam verschwindet.
Bleibt noch die Frage, ob theaterkritik.ch überleben kann, die Frage nach dem Mengengerüst: Wieviele Produktionen pro Jahr gibt die (deutschsprachige) Schweiz her? theater.ch nennt jetzt gerade 175 Premieren, wovon 2 französischsprachig. Wenn alle (wow!) mitmachen, wirft das gut 50’000 Franken ab (nach Abzug der Kosten). Aber (1) so weit muss die Plattform erst mal kommen und (2) ist es dann immer noch zu wenig, um zu leben. Und möglicherweise gerade nicht genügend, um nicht zu sterben.
18. November 2011 um 10:43 Uhr
REPLY:
Lieber trox
Danke für Deinen ausführlichen Beitrag zur Diskussion.
Im ersten Punkt stimme ich Dir zu: Das internetmässige Marketing von http://www.theaterkritik.ch muss erst noch angegangen werden — sinnvollerweise in Zusammenarbeit mit dem Theaterportal http://www.theater.ch, das eine Partnerschaft mit http://www.guidle.ch eingegangen ist und deshalb derzeit restrukturiert wird (Aus Spargründen müssen die Mitglieder der Theaterverbände in Zukunft ihre Inhalte selber erfassen.). Dass an die Stückbeschriebe auf http://www.theater.ch Fotos, Videos und v.a. Kritiken angefügt werden können, wäre wohl an der Zeit.
Mit Deiner Rechnung im zweiten Punkt bin ich nicht ganz einverstanden. Die KritikerInnen bekommen pro Kritik 200 Franken, also mehr als in Deiner Berechnung und wahrscheinlich auch mehr als bei jeder Zeitung. Aber mit seriöser Vorbereitung, Anreise, Premierenbesuch, Gespräch mit den Theaterschaffenden und dem Verfassen einer fundierten Kritik ist das auch ein halber bis ganzer Tag Arbeit. Und Schreiben ist schon seit langem unterzahlt, deshalb schicken die Printmedien nur noch PraktikantInnen — alles andere wäre zu teuer. Anyway, 200 Stutz ist sicher nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel.
Falls keine Subventionen dazu kommen, bleiben unter dem Strich für die Organisation, Redaktion und Infrastruktur 200 Franken. Ob das wenig oder viel ist, kann ich ohne Einsicht ins Budget dieses Projekts nicht beurteilen. Fazit: http://www.theaterkriitik.ch befindet sich noch in der Aufbauphase und einiges ist sicher noch verbesserungswürdig — schauen wir doch mal, wie sich dieses Projekt in der Pilotphase entwickelt, und begleiten wir es wohlwollend-kritisch.