Die Bretagne ist voll von Geschichten, Sagen und Legenden. Es wundert deshalb nicht, dass auch neuere und aktuelle Geschichten — seien es Comics, Kriminalromane oder Spielfilme — in dieser Ecke von Frankreich angesiedelt werden. Die gut gemachte Website des bretonischen Tourismusverbands hat einige Buchtipps und einige Filme und Serien zusammengestellt. Deshalb beschränke ich mich hier auf einige Bücher und Filme, die ich mir vor, während oder nach unserer Bretagne-Reise zu Gemüte geführt habe.
Mont Saint-Michel
Der sehenswerte Dokumentarfilm über die Geschichte und Architektur des Touristenmagnets Mont Saint-Michel ist allen zu empfehlen, die mehr über die Entstehung dieses labyrinthischen Bauwerks wissen wollen. Drohnenaufnahmen zeigen den ikonischen Berg aus Perspektiven, wie sie die Besucher:innen nie zu sehen bekommen, und „Röntgenaufnahmen“ zeigen die innere Konstruktion der Bauten auf dem Mont Saint-Michel.
→ Video in der Arte Mediathek
Saint-Malo: «Alles Licht, das wir nicht sehen»
Ein Megabestseller ist «Alles Licht. das wir nicht sehen» von Anthony Doerr. „Zur schwartenverdächtigen Millionenauflage ist nun aber auch der Pulitzerpreis gekommen,“ schreibt die FAZ in ihrer Rezension von 2015 mit dem Titel Hinter jeder Ecke lauert der Geschichtsgrusel und fragt sich dann, warum der Roman in den Vereinigten Staaten Leser und Kritik gleichermassen entzückt, das Echo der deutschen Übersetzung allerdings eher verhalten blieb.
Der gut 500 Seiten dicke Roman lässt sich gut am Strand oder in der Badi lesen, besteht doch das Buch aus einer Aneinanderreihung von kurzen, in sich geschlossenen Texten von zwei, drei, selten mehr Seiten. Diese kurzen Texte springen zwischen den Hauptfiguren des Romans hin und her, im wesentlichen zwischen Werner Hausner, einem Waisenkind aus dem Ruhrpott, das im Begabtenförderungsprogramm der Nazis zum Funktechniker ausgebildet wird, und Marie-Laure LeBlanc, einem erblindeten Mädchen, das mit seinem Vater in Paris lebt und im Krieg vor den heranrückenden Deutschen zu den Verwandten in Saint-Malo flieht. Auch Werner Hausner verschlägt es nach Saint-Malo, wo er Partisanen-Sender orten muss. Das Showdown, das sich in den Tagen vom 7. bis 12. August 1944 abspielt, als Saint-Malo von den Alliierten bombardiert und rückerobert wird (vgl. Die Bretagne und der Zweite Weltkrieg und Die Schlacht um die Bretagne), bringt die beiden zusammen.
Zusammengehalten wird auch die Miniserie auf Netflix (Wikipedia) von einem Edelstein namens Das Meer der Flammen, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Bis zur letzten Episode ist der SS-Standartenführer und Edelsteinexperte Reinhold von Rumpel auf der Suche nach diesem Edelstein, den Marie-Laures Vater, ein Mitarbeiter des Pariser Naturkundemuseums, bei der Flucht aus Paris mitgenommen haben soll. Auf den Spuren des Edelsteins kommt auch der kranke und morphinsüchtige Von Rumpel, der an den Mythos glaubt und an Skrupellosigkeit nicht zu übertreffen ist, rechtzeitig zum Showdown nach Saint-Malo, wo er im von den Alliierten entfachten Meer der Flammen umkommt.
Wer die „Altstadt“ von Saint-Malo besucht, die nach der Rückeroberung durch die Alliierten zu 80% zerstört war und so wie vor dem Krieg wieder aufgebaut wurde, kann die Handlungsorte von Roman und Netflix-Miniserie wiedererkennen und fühlt sich erinnert an eine spannende und auf die Tränendrüsen drückende Geschichte, die hier so nie passiert ist.
→ Miniserie auf Netflix
Das Gezeitenkraftwerk und «Afrika fluten»
Am 14. Juni 2024 hat Christoph Keller bei uns im Salon Himmelblau seinen Roman «Afrika fluten» vorgestellt, den ich unterwegs in der Bretagne gelesen habe. Dieser packende Roman, der 2023 im Rotpunktverlag erschienen ist, handelt von «Atlantropa», einem grössenwahnsinnigen Projekt, das in den 1930er Jahren ausgeheckt und zum Glück nie realisiert wurde. Angesiedelt ist dieser Roman am Mittelmeer und in Afrika und hat mit der Bretagne erst mal nichts zu tun. Aber die unabsehbaren Folgen, die Atlantropa für den Mittelmeerraum und weite Landstriche in Afrika mit sich gebracht hätte, nur um die Stromproduktion für Europa sicherzustellen, sind mir bei der Besichtigung des Gezeitenkraftwerks La Rance (Wikipedia) wieder in den Sinn gekommen.
Das Gezeitenkraftwerk La Rance bei Saint-Malo, das 1967 erstmals „Lunarstrom“ produzierte, liefert gemäss Wikipedia jährlich 600 Millionen Kilowattstunden Strom und damit rund 3 % des Strombedarfs der Bretagne. Das Kraftwerk ist nicht ansatzweise so grössenwahnsinnig wie Atlantropa, dennoch hat es beträchtliche ökologische Folgen für die Trichtermündung der Rance: Das Gezeitenkraftwerk nutzt zwar die Gezeiten, aber der Tidenhub hat sich mit dem Kraftwerksbau von 14 auf 7 bis 8 Meter verringert und zeitlich verschoben. Ausserdem führt die Ablagerung von Sedimenten im Speichersee zur einer Verlandung des Mündungstrichters. Für bestimmte Tierarten ist es nicht mehr möglich das Sperrbauwerk zu passieren, hinter der Sperre im Speichersee hat sich der Salzgehalt verringert, so dass Salzwasserfische nicht mehr vorkommen, während sich der Bestand an Süsswasserfischen vergrösserte. Es ist wohl kein Zufall, dass die erste Idee für ein Gezeitenkraftwerk an der Rance-Mündung 1921 präsentiert wurde, also grob im gleichen Zeitraum, als auch das grössenwahnsinnige Projekt «Atlantropa» entstand und die Menschen in Europa von der nahezu unbegrenzten Verfügbarkeit elektrischer Energie träumten.
Auf den Spuren von Kommissar Dupin
Wer kennt sie nicht, die Krimis von Jean-Luc Bannalec? Unter diesem Pseudonym veröffentlicht der deutsche Krimiautor Jörg Bong seit 2012 jedes Jahr einen Kriminalroman mit Kommissar Dupin. Die ARD hat 12 von diesen mittlerweile 13 Krimis, die an den schönsten Orten in der Bretagne spielen, verfilmt und als Donnerstagskrimi gezeigt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund für die grosse Bekanntheit von Kommissar Dupin im deutschen Sprachraum. Die Romane und noch mehr die TV-Krimis sind beste Tourismuswerbung für die Bretagne, wirken sie doch wie Ferienprospekte in Krimiform.
Nicht alle Fälle von Kommissar Dupin sind online verfügbar, aber sie sind immer wieder mal im TV zu sehen.
→ Kommissar-Dupin-Krimis in der ardmediathek.de
Kommissar Dupin ist inzwischen derart bekannt und beliebt, dass es zweiwöchige Busreisen Auf den Spuren von Kommissar Dupin gibt, aber auch ein Bildband mit Kommissar Dupins Landschaften, ein Kochbuch mit seinen Lieblingsgerichten sowie einen Reiseführer Dupins Bretagne, der unter Mitwirkung von Manfred Görgens entstanden ist. Der frankophile Journalist und Autor Manfred Görgens ist seinerseits Verfasser des Dumont-Reise-Taschenbuchs bretagne, das mit guten Tipps und Geschichten aufwartet und sich bei der Reiseplanung als hilfreich erwiesen hat.
Wer die Tat- und Lieblingsorte von Jean-Luc Bannelecs Kommissar Dupin abklappern möchte, www.bretagne-reisen.de hat die passende interaktive Karte ins Netz gestellt:
«Bretonische Flut»
Den Bannalec-Krimis nicht abgeneigt, habe ich unterwegs «Bretonische Flut» gelesen: Kommissar Dupins fünfter Fall beginnt in der Fischauktionshalle von Douarnenez, spielt aber zu einem grossen Teil auf der Île de Sein. Ein halbes Buch lang kommt Dupin mit der Aufklärung kaum voran, weil die involvierten Fischer und Schmuggler nicht besonders gesprächig sind. Als auf Seite 186 am Strand von Lostmarc’h auf der Presqu’île de Crozon eine dritte Leiche gefunden wird, nimmt die Geschichte endlich Fahrt auf. Dupin lebt gerne am Meer, mag aber Bootsfahrten auf dem Meer gar nicht, weil er schnell seekrank wird. Als sich sein Fall ins Mer d’Iroise verlagert, also in die küstennahen Meereszonen vor der Bretagne, muss Dupin ziemlich leiden, denn zum Showdown im Molène-Archipel zieht auch noch ein heftiger Sturm auf.
Der Archipel von Molène ist ein riesiges Granitplateau, das einst zum Festland der Bretagne gehörte. Kollege Riwal erklärt Dupin: „Bei Flut ist es ein Meer mit Land, bei Ebbe ein Land mit Meer.“ Und tatsächlich: Auf der Fahrt mit dem Fährschiff von Le Conquet über Molène (bret. Moal-Enez, die kahle Insel) zur Insel Ouessant sieht man Leuchttürme, die mitten im Atlantik stehen, und nicht wenige Leuchtbojen, die vor Untiefen warnen. Eine wichtige Rolle in diesem Dupin-Krimi spielt die Legende der versunkenen Stadt Ys: Die unfassbar reiche Stadt soll in der Bucht von Douarnenez in bretonischen Fluten versunken sein. Offen bleibt, ob die beiden ermordeten Frauen das goldene Kreuz der einst prächtigen Kathedrale tatsächlich gefunden haben.
Mit Asterix und Obelix in der Bretagne
Schon viel länger als Kommissar Dupin machen zwei Gallier beste Tourismuswerbung für die Bretagne: Asterix und Obelix. Seit 1959 beginnt jeder Asterix-und-Obelix-Band — inzwischen gibt es 40 Bände — mit einer Gallien-Karte samt Lupe, die die Nordküste der Bretagne vergrössert. Obwohl René Goscinny und Albert Uderzo, die Schöpfer der Comic-Reihe, immer betonten, dass es kein reales Vorbild für das „Dorf der Verrückten“ gäbe, suchen Fans nach den Spuren der beiden Gallier – so wie die Fans von Kommissar Dupin die ganze Bretagne abklappern.
Während comedix.de das gesammelte Wissen über Asterix und Obelix online gestellt hat, bereist Die Welt 50 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bands «Asterix der Gallier» die Heimat der „unbeugsamen Gallier“. Die Gegend hiess damals Aremorica, vom Keltischen are-mor, „vor dem Meer“. Und von Wiebke Hillen von outdooractive.com, die auf der Suche nach den Inspirationsquellen von Uderzo und Goscinny war, erfahren wir, dass sich die bedauernswerten Korsaren, die bei jedem Zusammentreffen mit den unbeugsamen Galliern ihr Piratenschiff verlieren, in Saint-Malo niedergelassen haben. Die Steinreihen von Carnac gehen gemäss verschiedenen Quellen auf Band XXVII «Der Sohn des Asterix» zurück, in dem Obelix den Milchlieferanten Appendix mit Hinkelsteinen bezahlt und im Tausch gegen eine Kuh die Steine in Reih und Glied auf ein Feld stellt. Das ist allerdings Geschichtsklitterung: Die Steine von Carnac wurden schon 6000 v.Chr. aufgestellt und waren zu Zeiten von Asterix und Obelix längst da.
«3 Tage in Quiberon»
Last but not least inspirierte uns die 2018 herausgekommene 3 Tage in Quiberon über Romy Schneider, selber drei Tage in Quiberon zu verbringen. Der Schwarzweissfilm rekonstruiert den Kuraufenthalt von Filmstar Romy Scheider zwischen Glanz und Elend, wie Frau Frogg schreibt. Quiberon kann erholsam sein, aber wenn sich die drei Tage in Quiberon 1981 so abgespielt haben wie im Film, dann waren sie für Romy Schneider (Marie Bäumer) eher stressig. Trotz ihrer negativen Erfahrungen mit der deutschen Presse schlägt sie nämlich eine Vorwärtsstrategie ein: Sie gibt Stern-Reporter Michael Jürgs (Robert Gwisdek) ein ausgedehntes Interview und posiert dem Fotografen Robert Lebeck (Charly Hübner) für die dazu gehörenden Fotoaufnahmen. Während drei Tagen entsteht so ein vielschichtiges Porträt Romy Schneiders, das die Spannung zwischen privater und öffentlicher Person widerspiegelt. Romy Schneiders Tochter und Ex-Mann kritisierten den Film wegen Unstimmigkeiten, andererseits erhielt der Film von Emily Atef zahlreiche europäische Auszeichnungen. Ob 3 Tage in Quiberon der Person Romy Schneider gerecht wird, kann ich nicht beurteilen, aber ich hätte ihr — wie Frau Frogg — erholsamere Tage auf der Presqu’île gewünscht.
→ Liste der VoD-Plattformen, die «3 Tage in Quiberon» streamen
Schon im Trailer sind einige Drehorte in Quiberon zu erkennen, aber unsere 3 Tage in Quiberon haben gezeigt, dass die Halbinsel im Atlantik viel mehr zu bieten hat, als der Film vermuten lässt. Dieses Fazit gilt für alle hier vorgestellten Bücher, Filme und Videos — denn es ist ja klar: Handlungen, die in der Bretagne angesiedelt werden, werden so beschrieben oder gezeigt, wie es der Plot erfordert, während alles andere, was die Vielfalt eines Orts ausmacht und zu einem ganzheitlichen Ferienerlebnis führt, ausgeblendet wird.
18. August 2024 um 14:21 Uhr
Oh, da hast Du aber viel gearbeitet, lieber Kulturflaneur! Ich für meinen Teil kann lediglich einen kurzen Kommentar zu „All the Light They Cannot See“ hinzuzufügen: Ich bekam es zu meinem 50. Geburtstag von Freunden geschenkt, die mir damit wahrscheinlich zu bedeuten versuchten, dass ich mich wegen meiner zunehmenden Schwerhörigkeit nicht so grämen solle, andere Leute seien sogar blind und würden einen Krieg durchleben und das Leben auch packen. Oder ich weiss auch nicht – vielleicht sollte es mich ja trösten.
Jedenfalls war es sicher gut gemeint. Aber ich fand das Geschenk ableistisch und die Story ebenso. Was hatte ich mit diesem unglaublich resilienten, blinden Mädchen mit dem unerhört liebevollen Vater gemeinsam?! Ich fand das Buch zwar spannend, aber oberflächlich – mit Ausnahme einer starken Passage darüber, wie es sich in einem totalitären Staat lebt (Werner und seine Schwester). Ich gab es kurz nach der Lektüre ins Bücherbrocki.
18. August 2024 um 14:22 Uhr
Hingegen bekomme ich beim Lesen Lust auf Asterix-Lektüre 😀
20. August 2024 um 17:18 Uhr
Der Vergleich zwischen «All the Light We Cannot See» und Asterix & Obelix ist insofern interessant, dass es sich um Geschichten handelt, die in der Vergangenheit angesiedelt sind. Sowohl Anthony Doerr als auch Goscinny, Uderzo & Co. verwenden historische Versatzstücke und örtliche Gegebenheiten für ihre Geschichten. Dass die Kelten die Steinreihen von Carnac aufgestellt haben und zwar tausende Jahre, bevor Obelix mit Hinkelsteinen handelte, ist völlig egal, denn alle wissen, dass es Obelix nie gab und er auch nie Hinkelsteine aufreihte. Während sich also die Schöpfer von Asterix und Obelix von keltischen Steinreihen inspirieren lassen, verwendet Doerr den historischen Verlauf des Zweiten Weltkriegs als Gerüst für seine Geschichte, die sich so wie im Roman nie abgespielt hat, sich aber plus minus so hätte abspielen können…