Ich bin kein Schlachtenbummler auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs, der Strände wie die Omaha-Beach in der Normandie abklappert und beim Gedanken an die vielen Toten erschaudert. Aber die Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht und die Rückeroberung durch die Alliierten ist Teil meiner Familiengeschichte, weil mein Grossvater als Deutscher in Frankreich stationiert war und das Ende des Kriegs in der Gegend von Lorient erdauern musste.

Der Krieg ist immer noch präsent

Kurz vor unserer Reise in die Bretagne brachte der 80. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie viel Medienaufmerksamkeit. Aber auch sonst ist der Zweite Weltkrieg in Frankreich präsenter als in der Schweiz, die von beiden Weltkriegen verschont blieb. In der Bretagne gibt es vor allem entlang der Küsten viele Überreste und Spuren dieses verheerenden Kriegs, seien es Betonbunker, die zum deutschen Atlantikwall gehörten, seien es Gedenkstätten, die an die Gefallenen erinnern, oder halbe Städte, die nach Kriegsende in Schutt und Asche lagen und unter immensem Aufwand wieder aufgebaut werden mussten.

Auf unseren Küstenwanderungen stossen wir immer wieder auf solche Bunkerbauten, die zum deutschen Atlantikwall gehörten. Dieser Schiessstand in der Nähe der Pointe Saint-Mathieu ist eine von über 8000 Betonruinen aus dem Zweiten Weltkrieg.

Was mir so nicht bewusst war: Der Atlantikwall, eine 2685 Kilometer lange Verteidigungslinie, wurde von Zehntausenden von Zwangsarbeitern erbaut, die von der Organisation Todt völkerrechtswidrig gezwungen wurden, unter miesesten Bedingungen am Bau von Bunkeranlagen und U-Boot-Stützpunkten mitzuarbeiten. Die eindrückliche Fotostrecke auf SPIEGEL Geschichte zeigt kaum bekannte Aufnahmen des Fotografen Gerd Wipfler, der mittendrin war.

Das Mahnmal an der Pointe Saint-Mathieu erinnert an die im Ersten Weltkrieg für Frankreich gefallenen Seeleute. Auf welchen Weltkrieg die verrosteten Geschütze zurückgehen, die in die Nebelbänke über dem Atlantik zielen, weiss ich nicht.


Im Friedhof von Saint-Quai-Perros gibt es, wie in jedem noch so kleinen französischen Dorf, nicht wenige Gräber von Gefallenen sowie Denkmäler, die an Toten der beiden Weltkriege erinnern.

Die Bretagne ist voll von Erinnerungsorten, die an die beiden Weltkriege erinnern. Frau Frogg hat den Soldaten von damals einen Beitrag gewidmet.

An einem grauen Sonntag wirken die grauen Häuser an der Rue de Siam, der Einkaufsstrasse von Brest, noch trister. Die Tristesse kommt aber auch davon, dass dieses Quartier, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag, in den 50er Jahren von Grund auf neu gebaut werden musste.

Die Schlacht um die Bretagne

Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am D-Day (6. Juni 1944) brauchten sie länger als geplant, nämlich fast zwei Monate, um sich festzusetzen und den Brückenkopf auszuweiten und zu sichern (vgl. ausführlicher Bericht über das Unternehmen Overlord). Am 1. August aber waren sie bereit für den Vorstoss nach Westen in die Bretagne und nach Osten Richtung Paris. Dann ging es plötzlich rasch: In der ersten Augusthälfte brachten die Amerikaner praktisch die ganze Bretagne unter ihre Kontrolle, nur um die Hafenstädte Brest, Lorient und Saint-Nazaire, wo die deutsche Marine ihre U-Boot-Stützpunkte hatte, wurde erbittert gekämpft. Am 20. September mussten die Deutschen in Brest kapitulieren, während sie in Lorient und Saint-Nazaire eingekesselt wurden und erst zwei Tage nach Kriegsende am 10. Mai 1945 kapitulierten (vgl. Schlacht um die Bretagne).

Der Vorstoss der US-Truppen in die Bretagne. In Saint-Malo und Brest mussten die Deutschen 1944 kapitulieren, während sie in Lorient und Saint-Nazaire bis zum Kriegsende neutralisiert wurden. de-academic.com

Fred Feuerstein in der Bretagne

Mein Grossvater, der in meiner Familie den Übernamen Fred Feuerstein hatte, war Deutscher und wurde von der Wehrmacht nach Frankreich geschickt. Von da schrieb er regelmässig nach Hause. 2013 hat Frau Frogg seine Briefe ausgewertet und in neun Beiträgen verbloggt:

Wegen Fred Feuersteins Briefen wollten wir die ehemalige U-Boot-Basis von Lorient besuchen, weil wir davon davon ausgingen, Fred habe es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dorthin verschlagen. Doch uns fehlt die Energie, Lorient mit dem Rollköfferli zu durchqueren, um die monströsen U-Boot-Bunker zu besichtigen. Dabei hätte sich dieser Abstecher durchaus gelohnt, wie der Spiegel-Bericht über Die U-Boot-Schrauber von Lorient zeigt.

Beim nochmaligen Lesen von Frau Froggs Beiträgen hat sich herausgestellt, dass mein Grossvater Fred bei der Ortschaft Plouharnel (am Anfang der Halbinsel Quiberon) eingekesselt war. In einem Brief, datiert am 20. August 1944, schreibt Fred, sie seien nun seit sechzehn Tagen eingeschlossen, was in etwa obiger Karte entspricht. Die Marine-Küstenbatterie Plouharnel am südöstlichen Ende des Kessels von Lorient umfasst ein Dünengelände auf der Halbinsel Quiberon, das über einen Quadratkilometer gross und auf Google Maps als Mur de l’Atlantique du Bégo markiert ist. Die fast 500 Fotos auf diesem Link vermitteln einen guten Eindruck von den Bunkeranlagen und betonierten Geschützstellungen. Der Verein Les Bunkers Mémoire de Guerre (LBMG) erinnert an den Zweiten Weltkrieg in Plouharnel.

Dieser Vorposten am Strand von Plouharnel gehört zu einer weitläufigen Befestigungsanlage mit einer Marine-Geschützbatterie zum Schutz des U-Boot-Hafens von Lorient. War mein Grossvater, der Gefreite Fred Feuerstein, auch hier?

Die Küstenbatterie Plouharnel war Teil der Festung Lorient und sollte mit drei 340-Millimeter-Eisenbahngeschützen die Gewässer südlich des U-Boot-Stützpunkts schützen. Gemäss battlefieldsww2.com wurde sie im März 1945 nach längerem Beschuss von den Alliierten eingenommen. Kann sein, dass auch Fred damals in Gefangenschaft geriet, kann aber auch sein, dass er das Ende des Kriegs erdauern musste — die in Lorient eingeschlossenen 10’000 bis 24’500 Mann unter General der Artillerie Wilhelm Fahrmbacher ergaben sich erst am 10. Mai 1945. Während Freds Chef Fahrmbacher, der durch und durch ein Militärkopf war, noch bis 1950 in Kriegsgefangenschaft bleiben musste, hatte Fred mehr Glück: Gemäss Familienlegende war er an Weihnachten 1945 wieder zu Hause bei seiner Familie.