Am zweiten Tag meiner Whatsalp-Wanderwoche war „Hiking in the rain“ angesagt: Im strömenden Regen wanderten wir von Hospental (1493 m.ü.M.) über Realp auf die Furka (2429 m.ü.M.), wo wir bei der Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstation Furka (ALPFOR) zu Gast waren. Vor dem Znacht präsentierte die ALPFOR-Leitung, Christian Körner und Erika Hiltbrunner, die Forschungsstation, ihre Arbeit, Forschungsergebnisse sowie interessante Facts zur Vegetation auf der alpinen Stufe und zu den Auswirkungen des Klimawandels. Am interessantesten fand ich einen Exkurs von Erika Hiltbrunner zur Verbuschung des Alpenraums durch die Grünerle (Factsheet als PDF) — ein ernstes ökologisches Problem, das ich bis anhin nicht kannte.

Die Folie in der Präsentation von Erika Hiltbrunner zeigt die grossen Flächen, die im Urserental von der Grünerle überwuchert sind.

Das Factsheet erklärt das Grünerlenproblem ausführlich und gründlich, aber kurz zusammengefasst handelt es sich um folgendes: Wo immer Schnittwiesen und Weiden nicht mehr bewirtschaftet werden, entsteht Grünerlengebüsch. Von den schweizweit 1000 ha, die jährlich verbuschen, sind 70% und im Alpenraum bis 85% von Grünerlen überwachsen. Die Grünerle ist eine einheimische Pflanze, die ihre ursprüngliche Nische in Bachrunsen und Lawinenzügen hat. Jetzt profitiert sie vom schnellen Rückzug des Menschen aus den Berghängen und breitet sich drei- bis viermal schneller aus als der Bergwald. Ermöglicht wird dieser rasche Vormarsch durch die Symbiose der Grünerle mit Bakterien, die Stickstoff aus der Luft in Dünger umwandeln. So düngt die Grünerle nicht nur sich selbst, sondern auch die Pflanzen in der Umgebung. Durch die Überdüngung entsteht ein dichtes Grünerlengebüsch, das die Biodiversität verringert, die Böden versauert und Unmengen von Lachgas (ein Treibhausgas, das 300mal stärker ist als CO2) in die Atmosphäre abgibt und so das Klima schädigt. Schlimmer noch ist die Tatsache, dass Grünerlen die Entstehung von Bergwald verhindern, weil die Sämlinge von Nadelbäumen im dichten Unterwuchs nicht aufkommen können. Schliesslich verringern grossflächige, monotone und undurchdringliche Grünerlengebüsche den touristischen Wert der schönen Berglandschaften. Für den Alpenraum ist der Vormarsch der Grünerle ist ein massives ökologisches Problem, das auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen hat.

Engadiner Schafe als mögliche Problemlösung: Indem sie Triebe und Rinde der Grünerlen fressen und so dafür sorgen, dass sie absterben.

Doch was kann man tun gegen dieses menschgemachte Problem? 1. Verhindern: Das Weiterführen der bisherigen Nutzung, also das Beweiden oder Heuen offener Flächen, verhindert, dass das Problem entsteht. 2. Aufgegebene Flächen melden: Die Behörden müssen wissen, welche Weiden und Berghänge nicht mehr genutzt werden. 3. Massnahmen ergreifen: Für jede nicht mehr genutzte Fläche muss festgelegt werden, wie die Verbuschung durch die Grünerle verhindert werden soll. Das ist allerdings gar nicht einfach, denn das Abschneiden der Grünerlen hilft nichts, weil sie aus ihrem Stock immer wieder austreiben. Ohne jahrzehntelange Pflege kann der Bergwald nicht aufkommen. Wo das Einwachsen erst beginnt, könnten Ziegen und Engadiner Schafe helfen: Sie fressen Triebe und Rinde von Grünerlen und anderen Sträuchern, was zum Absterben ohne Stockausschlag führt und so verhindert, dass die Grünerle weiter vordringt.


Grün-Erlen-Alarm in der Schweizer Tagesschau, die am 10. August 2013 über das akute Grünerlenproblem berichtete.

Als die Korporation Ursern auf Initiative von ALPFOR versuchsweise eine Herde Engadiner Schafe gegen die Verbuschung einsetzen wollte, gab es nach der Infoveranstaltung massive Proteste aus Jägerkreisen, die grosse Grünerlenbestände gut finden, weil sie dem Wild Schutz bieten und das Wild einfacher zu schiessen ist. Ihre Abneigung gegen Massnahmen zur Bekämpfung der Grünerle fusst wahrscheinlich auch auf der Tatsache, dass die Problemanalyse und der Lösungsvorschlag von einer „Lachonigen“ (Lokalbegriff für eine, die man kommen liess, eine Auswärtige also) stammt — ganz nach dem Motto: Alles, was nicht einheimisch ist, ist des Teufels. Anyway, Erika Hiltbrunner liess sich nicht einschüchtern und ist inzwischen stolze Besitzerin von 200 Engadiner Schafen, die am liebsten Grünerlen fressen.

„Ziegen oder Engadiner Schafe
sind das beste Mittel (gegen die Grünerle) in der Zukunft.“
HANS REGLI, Statthalter Korporation Ursern

⇒ Die Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstation Furka (ALPFOR) auf stories & places
⇒ Die Homepage der Alpinen Forschungs- und Ausbildungsstation Furka (ALPFOR)
⇒ Das Factsheet zur Verbuschung des Alpenraums durch die Grünerle
⇒ Der Gastblog von Erika Hiltbrunner und Christian Körner auf whatsalp.org