In den Hügeln ob Locarno gibt es einen Wanderweg, der nennt sich „Sentiero Collina Alta“ und führt mehr oder weniger an unserer Ferienwohnung vorbei — für uns ein Schlechtwetterprogramm, das wir mehrmals, dafür in Etappen absolviert haben. Und: Auf dem „oberen Hügelweg“ nach Locarno gibt es einiges zu sehen!
1. Kontrastfarbener Käfer
Dieser gelbe Schwefelkäfer auf dieser blauen Kugeldistel (eine von etwa 120 Arten) war nicht zu übersehen, denn Konträrfarben sind das Gegenteil von Tarnung… Schöne Blumen wachsen überall, manchmal sogar aus Trockenmauern:
2. Trotte — Kelter — Torchio
Drei Wörter für ein und das selbe: eine Weinpresse. Ob sie noch funktioniert und ob sie noch in Gebrauch ist, weiss ich nicht, aber an der Strasse, die ins Val Resa führt, markiert sie den Beginn einer Erlebnislandschaft, die fürs Tessin typisch ist: ein schmales Strässchen, das durch eine terrassierte Landschaft mit Trockenmauern, Rustici*) und Grotti**) führt. Vom Torchio vinario aufwärts hat es noch mindestens drei Grotti, die vor allem übers Wochenende betrieben werden.
3. Pont del Sipp — Sepps Brücke
Das Prinzip Lieber oben drüber als unten durch galt auch im Tessin: Der schnellste Weg vom Val Verzasca nach Locarno führte nicht durchs Tal, sondern über die Hügel. Auch heute noch ist der obere Hügelweg Teil des Sentiero Verzasca, eine mehrtägigen Wanderroute von Sonogno nach Locarno. Der Pont del Sipp überbrückt das Bachtobel der Navegna mit einem romanischen Rundbogen an einer idyllischen Stelle, wo der Bach kaskadenartig über mehrere Wasserfälle talwärts fliesst. In früheren Zeiten verbrachte ein Bauer namens Sipp den Sommer jeweils in der Nähe der um 1750 erbauten Brücke, weshalb sie bei den Einheimischen Pont del Sipp heisst.
4. Cappella Rotta — Beten gegen die Pest
Die Wegkapelle am Weg ins Val Verzasca ist beschädigt — und wird deshalb nur noch als kaputte Kapelle bezeichnet. Sie war früher San Rocco geweiht, der zwar nie heilig gesprochen wurde, aber dennoch als „Pestheiliger“ zu den 14 Nothelfern zählt. Die Cappella Rotta war während den Pestzügen ein Zufluchtsort für Pestflüchtlinge.
5. Blick aufs Maggiadelta und Locarno
Wo der Wald sich lichtet, wie hier beim Abstieg auf Brione sopra Minusio, eröffnet sich der Blick auf den Lago Maggiore und das eindrückliche Delta der Maggia. In der vorderen Ecke des Deltas ist trotz trübem Wetter Locarno, in der hinteren Ecke Ascona zu erkennen.
6. Die Post von Brione — früher und heute
Gemäss einer Tafel des itinerario storico culturale war in diesem Gebäude einmal die Postablage von Brione — heute ist hier nicht einmal mehr die Bar Posta. Auch wenn die vielen Leute auf dem historischen Bild für den Fotografen posieren — heute ist in Brione deutlich weniger los: Als wir am Mittag eine offene Beiz suchten, hatten von drei Beizen drei zu, auch die Osteria da Johnny. Wohl oder übel nahmen wir den Bus zurück nach Contra und kochten selber…
7. Aufgemotzte Rustici
Am oberen Hügelweg trifft man immer wieder auf aufgemotzte Rustici, die als Ferienhäuser genutzt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber manchmal wird man den Verdacht nicht los, dass an Stelle von rustikalen Steinhäusern Neubauten hingestellt wurden. All zu lange betrieb der Kanton Tessin bezüglich Rustici eine Laisser-faire-Politik. Jetzt aber sei der Umgang mit den Rustici streng reglementiert, war im Umfeld der Abstimmung über die Zweitwohnungsinitiative aus dem Tessin zu vernehmen, deshalb sei es nicht notwendig, dass Rustici als Zweitwohnung gezählt würden. Aber, bitte sehr, als was denn sonst? Als Erstwohnungen, als Ziegenställe oder als ehemalige Ruinen oder was?
8. Suchbild
9. Bauboom an Locarnos Goldhügel
Während die einen ihr Ferienhaus im Juni leer stehen lassen und ihre Nachbarn ihr Ferienhaus gar veräussern wollen, …
… wird an in Locarno-Monti und Orselina gebaut, was das Zeug hält, als ob die letzten Baugrundstücke am Goldhügel nur noch diesen Sommer überbaut werden könnten. Zu vermuten ist, dass dieser Bauboom auch eine Folge der Annahme der Zweitwohnungsinitiative ist. Mit dem knappen JA des Stimmvolks ging die Diskussion über die Folgen und die Umsetzung dieser in den Tourismusgebieten sehr ungeliebten Initiative erst richtig los. Am 22.8.2012 hat der Bundesrat eine Verordnung zur Umsetzung erlassen, die gilt, bis das vom Parlament noch zu erarbeitende Gesetz in Kraft tritt, aber er hat sich schwer getan und die Umsetzung verwässert, vgl. Echo der Zeit auf Radio SRF.
C. Auch am Etappenziel…
waren die ersten drei Restaurants zu und erst das vierte hatte offen:
Dafür war die Aussicht auf den Lago Maggiore, Locarno und Madonna del Sasso grandios und die Lachsforelle schmeckte ausgezeichnet.
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*) Ein Rustico ist ein rustikales Tessiner Steinhaus. Rustici wurden früher meist ausserhalb von Dörfern auf Waldlichtungen, Maiensässen und Alpweiden als temporäre Wohnhäuser, Ställe und Heuschober gebaut und genutzt. Heute sind die oft nur zu Fuss oder mit dem Helikopter erreichbaren Rustici entweder zu Ferienhäuschen umgenutzt worden — meist am Rande der Legalität — oder sie zerfallen allmählich zu Ruinen.
**) Ein Grotto ist die Tessiner Version einer Gartenbeiz oder eines Schanigartens. Grotti sind oft nur im Sommer betriebene rustikale Beizen mit grosser Outdoor-Bewirtung, typischerweise im Wald gelegen und mit Granittischen ausgestattet.
28. August 2012 um 19:32 Uhr
diesen Beitrag, lieber kulturflaneur! Wer keine Lust auf diese Wanderung bekommt, ist selber schuld. Ich hätte beim Lesen fast vergessen, dass ich auf einem dieser Spaziergänge zum Weinen müde war.
Rochus oder San Rocco habe ich Papierkatholikin übrigens umgehend zu meinem Lieblingsheiligen erklärt. Ein wahrer Held, wie der Wikipedia zu entnehmen ist: “ Er wurde als Sohn reicher Eltern in Montpellier geboren. Nachdem er als Zwanzigjähriger seine Eltern verloren hatte, verschenkte er sein Vermögen und trat in den Dritten Orden des hl. Franz von Assisi ein. Als er 1317 nach Rom pilgerte, half er unterwegs bei der Pflege von Pestkranken. Diese soll er nur mit Hilfe des Kreuzzeichens wundersam geheilt haben. In Rom angekommen heilte er weiter, ohne dass er zu Ansehen oder Reichtum kam.
Als Rochus auf seiner Rückreise in Piacenza 1322 selbst mit der Pest infiziert wurde, wurde er von niemandem gepflegt. Er „empfahl sich Gott“ und ging in eine einsame Holzhütte im Wald. Dort wurde er der Legende nach von einem Engel gepflegt, und der Hund eines Junkers brachte ihm solange Brot, bis er wieder genesen war und er nach Piacenza zurückgehen konnte, wo er weiterhin heilte, bis er dort die Pest besiegt hatte.
Als er wieder in seine Heimatstadt kam, erkannte ihn aufgrund seiner Verunstaltungen durch seine Pesterkrankung niemand, und er wurde unter dem Verdacht der Spionage ins Gefängnis geworfen. Rochus dankte Gott für diese Prüfung und brachte geduldig fünf Jahre im Gefängnis zu, bis er starb.“
Auch wie er auf Abbildungen jeweils züchtig den Rock lüftet, um am wohlgeformten Bein ein wenig beeindruckendes Pestmal zu zeigen, hat etwas Unwiderstehliches.
29. August 2012 um 1:53 Uhr
REPLY:
Wow, das ist kein Kommentar, sondern ein eigener Eintrag. Danke.
Was das dekorative Pestmal angeht, kann ich nur vermuten, dass es San Rocco nicht so schlimm erwischt hat — kann man die Pest auch nur ein bisschen haben? — oder dass der Pestheilige schon weitgehend geheilt war.
29. August 2012 um 16:18 Uhr
Rochus sogar schwer erwischt, kann man auf Grund dieses Satzes in der Wikipedia annehmen: „Als er wieder in seine Heimatstadt kam, erkannte ihn aufgrund seiner Verunstaltungen durch seine Pesterkrankung niemand, und er wurde unter dem Verdacht der Spionage ins Gefängnis geworfen.“
Die blässlichen Pestmale auf den Bildern entstammen wohl eher dem Wunsch, in der Kunst etwas Schönes zu zeigen. Wer wollte schon einen – endlosen – Gottesdienst lang das Bildnis eines wirklich entstellten Menschen sehen?!