Und ich meine jetzt nicht die „floridaisierte“ Region Locarno, „Gottes Wartezimmer“ der Deutschschweiz, wo sich so viele RentnerInnen niedergelassen haben, dass man mehr Deutsch als Italienisch hört — mit den TouristInnen im Sommer sowieso. Nein, ich meine das einzige deutschsprachige Dorf im Tessin: das Walserdorf Bosco Gurin. Ein Ausflug in eine der entlegensten Ecken des Tessins.
Leider haben wir uns nicht den besten Tag ausgesucht: Die Berge waren wolkenverhangen und am Nachmittag begann es zu regnen. Noch fast schlimmer war, dass bei diesem Ausflug auch Herr Menière unbedingt mit von der Partie sein wollte.
Cevio
Wir nehmen also den Busersatz für das seit 50 Jahren stillgelegte Maggiatal-Bähnli bis nach Cevio, dem Hauptort des Bezirks Vallemaggia. Cevio ist nicht riesig, hat aber im Dorfzentrum einen sehenswerten Platz mit einigen interessanten Bauten:
Bosco Gurin
Nach einer guten Viertelstunde kommt das Postauto, das in einer halsbrecherischen Fahrt ins höchstgelegene Tessiner Dorf Bosco Gurin hochfährt. Oben angekommen, machen wir zuerst einen Rundgang durchs schmucke Dorf:
Alpenflora
Eigentlich wollten wir eine Stunde auf die Grossalp hochwandern und dort zum Mittagessen einkehren. Doch Herr Menière macht uns einen dicken Strich durch die Rechnung. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als umzukehren und die Alpenflora zu fotografieren:
Die Walser
Im Restaurant im Dorf unten fällt uns dieser Prospekt über Bosco Gurin und die Walser in die Hände:
Warum die Leute im Oberwallis im ausgehenden 12. Jahrhundert beschlossen, ihr Tal zu verlassen und auszuwandern, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Jedenfalls besiedelten sie im 13. Jahrhundert mehrere italienische Hochtäler, u.a. das Pomatt (Val di Formazza), von wo die Walser um die Mitte des 13. Jahrhunderts weiterzogen, die Guriner Furka überquerten und Bosco Gurin gründeten. Es ist urkundlich belegt, dass Bosco Gurin bereits 1253 eine eigene Gemeinde war. Trotz der unglaublichen Härte des Lebens in den Bergen und mehreren Schicksalsschlägen, die die Guriner wegstecken mussten, leben in Bosco Gurin immer noch Nachfahren der Walser, die das Gebiet einst besiedelt hatten. Und sie sprechen immer noch Deutsch — Gurinerdeutsch genau genommen.
Gurinerdeutsch
Wenn man allerdings der Volkszählung glauben darf, war Bosco Gurin im Jahr 2000 kein deutschsprachiges Dorf mehr: Nur 32.4% kreuzten Deutsch als ihre Hauptsprache an. Damit belegte die Walsergemeinde in der Rangliste der prozentualen Deutschanteile im Tessin nur noch Rang 5:
Rang | Gemeinde | % | Lage | |
---|---|---|---|---|
1 | Indemini | 48.7 | ||
2 | Orselina | 36.7 | ||
3 | Ronco sopra Ascona | 33.7 | ||
4 | Brione sopra Minusio | 33.1 | ||
5 | Bosco/Gurin | 32.4 | ||
6 | Gerra (Gambarogno) | 28.3 | ||
7 | Caviano | 27.0 | ||
8 | Brissago | 24.9 | ||
9 | San Nazzaro | 24.8 | ||
10 | Mergoscia | 24.3 | ||
… | ||||
12 | Ascona | 23.9 | Eine Überraschung ist Rang 1: In Indemini, einem abgelegenen Bergkaff, redete 2000 fast die Hälfte der 54 Einwohner Deutsch. Abgesehen von Bosco Gurin sind die Gemeinden auf den Plätzen 2 bis 10 alle in der Agglomeration Locarno. In Ascona redete fast ein Viertel Deutsch. Während Locarno mit einem Anteil von 10.5% Deutschsprachiger noch etwas über dem Tessiner Durchschnitt von 8.3% liegt, sind die übrigen Tessiner Städte italienischer. Am Schluss rangiert Osco in der Leventina, wo nur eine einzige Person deutschsprachig war. | |
88 | Locarno | 10.5 | ||
145 | Lugano | 7.0 | ||
210 | Bellinzona | 3.6 | ||
245 | Osco | 0.6 |
Bosco Gurin sei sprachlich noch nicht gekippt, meint Wikipedia, denn die Guriner seien auf ihrer Sprachinsel gezwungenermassen zweisprachig, hätten aber bei der Volkszählung 2000 nur eine Hauptsprache angeben können. Gemäss Wikipedia sprechen noch etwa 130 Personen Gurinerdeutsch — von den aktuell rund 50 BewohnerInnen des Walserdorfs sollen noch etwa zwei Drittel den Dialekt beherrschen, der aber über kurz oder lang aussterben wird. Noch spricht man hier also eine Art Deutsch, aber wie lange noch?
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