Vor gut zwei Wochen zeigte mir Frau Frogg einen Bericht in der Luzerner Zeitung über den neu eröffneten Rontaler Höhenweg. „Interessant“, dachte ich mir, „den will ich mir ansehen!“ Da ich am Nachmittag grad nichts zu tun hatte und das Wetter recht schön war, nahm ich nach dem Mittag den Weg hoch über der Agglo unter die Füsse und wanderte nach Honau.

Wandern sollte man mit offenen Augen, denn unterwegs gibt’s viel zu sehen. Wie die Bilder zeigen, bieten sich auf dem Weg von meinem Wohnquartier in Luzern über den Startpunkt des Rontaler Höhenwegs bis zum Endpunkt in Honau viele kleine Geschichten an:

  • Widerstand gegen die Spange Nord

    Spange Nord = Quartiermord: Es beginnt mit dem sich formierenden Widerstand gegen die Schneise, die als vierspuriger Autobahnzubringer mitten durch unser Wohnquartier geplant wird. Dass die Entwicklung im Rontal immer mehr Verkehr generiert, ist ein Problem. Das zeigt sich schon daran, dass die Stadt Luzern zusätzlich zur Zone 30 für unsere Quartierstrasse neuerdings ein allgemeines Fahrverbot erlassen hat, um den Schleichverkehr zu unterbinden (vgl. Fahrverbot mit Zubringerdienst auf Libellenstrasse).

  • Sanierung der ABL-Siedlung Obermaihof

    Sanierung der ABL-Siedlung Obermaihof: Ich bin mir nicht sicher, wie gut die BewohnerInnen der ABL-Siedlung die etappenweise Gesamtsanierung finden, anyway bis 2024 wandelt sich das ABL-Wohnquartier im Luzerner Maihof (…) zur Grossbaustelle, schreibt die LZ. Ausser, dass sich die Mieten nahezu verdoppeln werden, was unvermeidbar sei, habe ich bis jetzt noch keine Kritik am Vorgehen der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern vernommen. In einer Urabstimmung befürworteten denn auch die ABL-GenossenschafterInnen den Rahmenkredit von 84 Millionen Franken für die Gesamterneuerung und Ersatzneubauten der Siedlung Obermaihof mit 93.2 Prozent Ja.

  • Schlösschen Hünenberg in Ebikon

    Erzkatholischer Schlossherr im Schlössli Hünenberg: Theodor Scherer-Boccard (1816-1885) war ein Politiker, Verleger und Publizist aus Solothurn. Nachdem er 1840/41 in seinem Heimatkanton für ein „Volksveto“ in der Verfassung gekämpft und zum Widerstand gegen die seiner Ansicht nach ungenügende Verfassung aufgerufen hatte, ging er die katholische Zentralschweiz ins „Exil“. Hier unterstützte er den Kampf des Sonderbunds gegen den entstehenden Bundesstaat. Im Sonderbundskrieg von 1847, einem relativ unblutigen Bürgerkrieg, setzten sich die liberalen Kantone durch. Damit war der Weg zu einer modernen Schweiz frei und die Politkarriere von Scherer-Boccard zu Ende, denn der 1848 gegründete Bundesstaat war eine repräsentative Demokratie, in der die unterlegenen konservativen Kräfte wenig zu melden hatten. Theodor Scherer-Boccard wohnte von 1855 bis 1884 im Schlössli Hünenberg in Ebikon. Als Verleger und Publizist vertrat er gemäss Wikipedia zeitlebens einen strikten konservativen Katholizismus — andererseits befürwortete er die Demokratie, weil sie für ihn „ein Instrument gegen das verhasste Repräsentativsystem des Liberalismus“ war.

  • Uralte Grenz-Eichen im Unterlöchli: Noch älter ist die Geschichte von Sara, Bianca, Olivia und Co., den Grenz-Eichen im Unterlöchli, die Judith Rickenbach in ihrer etwas anderen Kulturgeschichte erzählt: Die Eichen, die über 200 Jahre alt sind, markierten Grenzen. Sara, die älteste von allen, ist schon mehr als 300 Jahre alt — sie steht unmittelbar neben der Busschleife Unterlöchli (Bild: www.monumentaltrees.com). Rickenbach schreibt, dass die Eichen Sinnbilder für Stärke und Langlebigkeit waren und man wohl glaubte, Bäume und Grenzverläufe würden damit ewig bestehen bleiben. Roman Graf liefert in seinem 2007 erschienen Artikel Der Eichenbestand der Stadt Luzern und seine Bedeutung im kantonalen Vergleich (Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern, Band 38) noch eine andere Interpretation: Da Eiche als Bauholz geschätzt war, gab es seit dem 17. Jahrhundert Verordnungen, die die Bevölkerung verpflichteten, jährlich eine bestimmte Anzahl Eichen zu pflanzen — die uralten Eichen wären also eine unangetastete Bauholzreserve für den Fall, dass die Kapellbrücke wieder einmal brennt.
  • Altersheim-Provisorium in Elementbauweise

    Ersatzaltersheim in Modulbauweise: Ohne Rontaler Höhenwanderung wüsste ich nicht, dass es nicht nur Schulhäuser, sondern auch Altersheime in Elementbauweise gibt. Auf diese Geschichte zum Altersheim-Provisorium beim Unterlöchli bin ich nur gestossen, weil ich wissen wollte, welchem Zweck das 100 m lange, dreistöckige, hellbraune Gebäude hinter der Busschleife dient — es ist das Provisorium der St.Anna-Stiftung für ihr Alterszentrum an der Tivolistrasse in Luzern.

  • Kein Höhenweg ohne Panorama: Was dem Rontaler Höhenweg zu einem echten Höhenweg allerdings noch fehlt, sind die Panoramatafeln an den Aussichtspunkten:

    Beim Hof Neufildern, hoch über der Agglo von Ebikon, hat man den besten Überblick über den Rontaler Agglomerationsbrei: Links die Liftfabrik Schindler (mit dem Turm), rechts die Mall of Switzerland…

    Einen ganz anderen Blick aufs Rontal hat man oberhalb von Gisikon-Root: Während die Reuss im Rontal nicht zu sehen ist, zieht sie sich hier von links nach rechts durch ganze Panorama…

  • Mall of Switzerland

    Mall of Switzerland: Auf dem ersten Panoramabild erkennt man das weisse UFO, das mitten im Rontal gelandet ist. Was früher mal „Ebisquare“ hiess, heisst jetzt etwas reisserisch „Mall of Switzerland“ — wahrscheinlich, weil das bei den arabischen Investoren besser ankommt, denn ohne Petrodollars aus Abu Dhabi wäre das zweitgrösste Einkaufszentrum der Schweiz wohl nie gebaut worden (vgl. Aus flüssigem Gold wird ein überflüssiges Shoppingcenter im TA vom 5.6.2014). Vor der Eröffnung im letzten Herbst war weder das Rontal noch die Region Luzern oder die Deutschschweiz unterversorgt — im Gegenteil: Während die Umsätze der bestehenden Shopping Malls sinken, verschärft sich mit dem neuen Einkaufsparadies der Wettbewerb und über kurz oder lang werden wir auch in der Schweiz das Phänomen der Dead Malls kennen lernen.

  • Geburtsbäume ob Dierikon

    Geburtsbäume: Nach einer Geburt ist es auf dem Land Brauch, fürs Baby einen Geburtsbaum mit allerlei Geschenken aufzustellen. Die Spender erwarten dann eine Einladung (vgl. www.babywelten.ch). Oberhalb von Dierikon trafen wir auf einen Bauernhof, der in einem Wald von Geburtsbäumen steht, was meine Wanderkollegin Sophie lapidar kommentierte mit: „Der ist aber in vielen Vereinen.“ Geburtsbäume gibt’s übrigens beim Stadtforstamt der Korporation Luzern.

  • Kneipp-Garten in Gisikon

    Gisikon ist auch Kneippkurort: Neuerdings gibt es hier einen Kneipp-Garten mit Wassertretanlage, Armbad, Gussstation, Barfusspfad etc. als Self-Service-Angebot. Kneippen ist mir seit meiner Kindheit ein Begriff: In den Ferien bei meiner Grossmutter in Scheidegg im Allgäu gingen wir zum Wassertreten in den Kurpark. Seither hat Kneippen für mich den Touch einer verstaubten Altweiber-Kur, doch Kneippen sei im Kommen, meint die Gisiker IG KneippGarten. Und: Seit 2015 gehört Kneippen zum immatriellen Weltkulturerbe.

  • Feuchtbiotop mit Tümpel in Gisikon

    Feuchtbiotope am Höhenweg: Feuchtbiotope würde man eher im Tal unten erwarten, aber entlang des Höhenwegs gibt es mehrere Feuchtbiotope mit Tümpeln und Wasserlöchern. Der Frosch im Logo des Höhenwegs macht deshalb durchaus Sinn: Ziel ist es, den Leuten im suburbanen Rontal die Natur näher zu bringen. Das bedeutendste Biotop am Weg ist wohl das 11 ha grosse Biotop Ebikon, das vor Jahrzehnten auf private Initiative künstlich angelegt worden ist. Das Privatareal, das umzäunt ist und nur mit einer Führung besichtigt werden kann, hat sich mittlerweile zum Artenschutzgebiet von nationaler Bedeutung entwickelt, das viele Pflanzen und Tiere beherbergt, die selten oder gar vom Aussterben bedroht sind. Der 1993 entstandene Film Kleine Wunder der Natur (37 min.) zeigt, was das eingezäunte Areal zu bieten hat:

  • Honauer Kreisel

    Honau — kleinste Gemeinde des Kantons Luzern: 2016 war Honau mit 363 Einwohnern bevölkerungsmässig die kleinste Gemeinde im Kanton Luzern. Gemäss Homepage war sie einmal die jüngste Gemeinde der Schweiz mit einem Durchschnittsalter von gerade mal 30 Jahren. Inzwischen ist sind HonauerInnen durchschnittlich 39.7 Jahre alt (zum Vergleich: Kanton Luzern 41.4, Gesamtschweiz 42.1 Jahre) — von 2287 Schweizer Gemeinden liegt Honau jetzt nur noch auf Rang 341 und im Kanton auf Rang 33. Die „jüngste“ Gemeinde der Schweiz ist mit 33.8 Jahren Bettens in Agglomeration Lausanne, mit 63.3 Jahren mit Abstand die „älteste“ Gemeinde ist Corippo im Verzascatal. Aber noch immer ist fast jedeR fünfte HonauerIn unter 18.
    Gemäss einem interaktiven Artikel Wo die Schweiz wächst — und wo sie schrumpft von SRF landet Honau beim Bevölkerungswachstum schweizweit auf dem 2. Platz: Honaus Bevölkerung hat zwischen 1981 und 2015 um 352% zugenommen (CH +31%). Ich finde, das explosionsartige Wachstum ist Honau nicht gut bekommen: Zumindest an der Hauptstrasse ist Honau ein vom Auto geprägter Unort mit Kreisel, Aldi und Hüsli-Quartier für PendlerInnen.

  • St.Eligius-Kapelle

    St. Eligius — Schutzpatron der Autozubehörhändler: Die St.Eligius-Kapelle von 1647 ist der Endpunkt unserer Höhenwanderung. Der heilige Eligius ist Schutzpatron zahlreicher Berufe, u.a. der Hufschmiede, Kutschenbauer und neuerdings der Autozubehörhändler — oder ist es Zufall, dass die ESA, die Einkaufsorganisation des Schweizerischen Auto- und Motorfahrzeuggewerbes, sich 1988 in Honau niedergelassen hat?

Hinweise und Fazit

Der Rontaler Höhenweg ist auf www.luzernplus.ch gut beschrieben. Hier gibt es auch die Angaben zu An- und Abreise, zu Distanzen, Höhendifferenzen und Wanderzeiten (die eher etwas knapp kalkuliert sind). Ebenda gibt es einen 2:23 langen Trailer (von Luzern nach Honau) sowie einen Prospekt mit Wanderkarte als PDF zum Runterladen. An mehreren Punkten ist es möglich, die Wanderung abzubrechen, ins Rontal abzusteigen und mit dem gut ausgebauten öV nach Hause zu fahren, bzw. die Wanderung nicht an den offiziellen Startpunkten des Höhenweg zu beginnen. Der Weg ist gut beschildert, nur an einer Stelle (in der Rütimatt in Ebikon) hatte ich Mühe, den Weg zu finden. Restaurants gibt es unterwegs keine, aber etliche Hofläden bieten in Selbstbedienung Snacks sowie kalte und warme Getränke an (Münz mitnehmen!).

Der Rontaler Höhenweg ist eine abwechslungsreiche, vierstündige Wanderung, die Anknüpfungspunkte zu zahlreichen Geschichten in den verschiedensten Themenfeldern bietet, eine Wanderung in der suburbanen Zone zwischen Stadt und Land, die aufzeigt, welche Probleme die Verstädterung der Agglomeration mit sich bringt.

⇒ Hinweise, Trailer und Karte zum Rontaler Höhenweg auf www.luzernplus.ch
⇒ Judith Rickenbach (2016): Was erzählt werden muss — eine etwas andere Kulturgeschichte des Kantons Luzern. 320 S., 156 Abb., Verlag kauf+lies, Luzern.
⇒ Hof Neufildern, der beste Aussichtspunkt des Höhenwegs auf stories & places.