In Reisender Revoluzzer habe ich geschrieben, dass uns die Ferienziele nicht ausgehen würden, wenn wir überall da Ferien machten, wo sich Bakunin — sei es freiwillig, sei es gezwungenermassen — einmal aufgehalten hat. Und jetzt ist es schon wieder passiert: Immer war dieser Bakunin schon vor uns da — diesmal in Saint Imier, wo er 1872 die Antiautoritäre Internationale mitbegründete.

Das Hôtel de la maison de Ville in Saint-Imier war 1872 Gründungsort der Antiautoritären Internationale.

Am 15. und 16. September 1872 fanden im Hôtel de la maison de Ville in Saint-Imier hintereinander zwei Kongresse statt: der Kongress der Fédération jurassienne und der Gegenkongress der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), die kurz davor an ihrem Kongress in Den Haag (2.-7. September 1872) beschlossen hatte, die Macht des Generalrats um Karl Marx und Friedrich Engels auszubauen und Michail Bakunin und James Guillaume aus der IAA auszuschliessen. Die 16 Delegierten des jurassischen Kongresses — Berufsrevolutionär Bakunin vertrat die Sektion Sonvilier — weigerten sich, die Macht des Generalrats der IAA zu anerkennen und protestierten gegen den Ausschluss von Bakunin und Guillaume aus der IAA.

Am Internationalen Kongress ging’s gleich weiter: James Guillaume und Adhémar Schwitzguébel vertraten die Fédération jurassienne, dazu kamen dreizehn weitere Delegierte (vier Spanier, sechs Italiener, zwei Franzosen und ein Amerikaner). Neben diesen „offiziellen“ Delegierten nahmen zahlreiche weitere Personen aus dem In- und Ausland am Kongress in St-Imier teil, u.a. auch eine Gruppe von russischen Frauenrechtlerinnen und Revolutionärinnen. Florian Eitel geht in seinem Buch Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz (S. 217ff.) von über 200 KongressteilnehmerInnen aus.

Der Kongress von St-Imier lehnte alle Resolutionen des vorangegangenen Haager Kongresses sowie den neuen Generalrat ab, erklärte, dass die Zerstörung jeglicher Herrschaftsstrukturen die erste Aufgabe des Proletariats sei und strebte die Organisation des Arbeiterwiderstandes durch Streiks an, mit dem Ziel der Zerstörung aller Privilegien und Klassenunterschiede. Damit begab er sich in scharfe Opposition zu Marx & Engels, die schon im kommunistischen Manifest forderten, „alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren“. Marx & Engels hatten in Den Haag zwar den Generalrat, nicht aber die Mitgliedsföderationen der IAA hinter sich gebracht.

Mit einem Solidaritätspakt zwischen den freien Föderationen und dem Aufruf an alle Föderationen der IAA, sich mit den in Saint-Imier versammelten Sektionen zu vereinigen, initiierte der internationale Kongress in St-Imier eine Parallelorganisation zur Internationalen Arbeiterassoziation und besiegelte den endgültigen Bruch mit den Marxisten der IAA. Die aus dem Gegenkongress in St-Imier entstandene Antiautoritäre Internationale hatte allerdings zu wenig Kraft, so dass sie sich schon 1877, nach ihrem letzten Kongress im belgischen Verviers, faktisch auflöste.

Globalgeschichte

Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz –
Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert

Auch wenn die Antiautoritäre Internationale nicht lange Bestand hatte, geistert die anarchistische Bewegung, die damals im Berner Jura begann, immer noch durch die Weltgeschichte. Doch warum waren ausgerechnet jurassische Uhrmacher die Taktgeber für eine weltweite Bewegung? Die kurze Antwort findet sich im WoZ-Artikel Globalgeschichte im Berner Jura über Florian Eitels mikrohistorische Analyse: Im Berner Jura sei laut Eitel ein „Labor“ für gewerkschaftliche Organisations- und Widerstandsformen entstanden, wo Klassenkampf, Solidarität und Selbstverwaltung erprobt und das emanzipierte Zusammenleben im Hier und Jetzt ansatzweise realisiert wurden. Um die Jahrhundertwende flossen diese Erfahrungen in die weltweit entstandenen anarchosyndikalistische Massengewerkschaften ein. In den 80er Jahren und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt das Ideal der jurassischen Uhrenarbeiter eines solidarischen und freiheitlichen Zusammenlebens jenseits von Nationalstaat und Kapitalismus ein Revival. Die lange Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet im Berner Jura, findet sich in Florian Eitels mikrohistorischen Analyse Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz, Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert (2018 im transcript-Verlag erschienen, 630 Seiten mit zahlreichen Abbildungen – das PDF, das hier gratis heruntergeladen werden kann, umfasst 46.6 MB).

Saint Imier ist immer noch eine anarchistisch angehauchte Ecke der Schweiz, wie die Reportage Die ewigen Anarchisten von St. Imier von Klaus Petrus über das Kollektiv des Espace Noir und die soziale Permakultur auf dem Mont-Soleil zeigt.

Das frühere Hôtel de Ville bzw. Central in Saint-Imier
auf der Kulturflaneur-Karte