Im Kulturplatz vom 15. Mai 2024 übers «Gut altern» geht Eva Wannenmacher der Frage nach, ob Kunst und Kultur die Lebensqualität verbessern kann. Eine interessante halbe Stunde zum Nachschauen auf SRF.
Elke Heidenreich: «Altern»
Da wird die Literatur-Saftwurzel Elke Heidenreich portraitiert, die es auch mit 81 nicht lassen kann, den Leuten zu sagen, wo’s lang geht. Ihr neues Buch Altern ist kürzlich bei Hanser Berlin erschienen, aber ich hab’s noch nicht gelesen…
«Man altert momentweise. Man altert je nach der Art, wie man gerade lebt. Eines meiner Fazits ist: Es ist nicht wichtig, wie alt man ist, sondern wie man alt ist, wie man sich fühlt, wie man noch lebt.»
Elke Heidenreich im Kulturplatz
Nic Hess, Artist in Residence
Da ist der Künstler Nic Hess, der im Projekt Artists in Residence eine Woche im Gesundheitszentrum für das Alter «Wildbach» verbrachte und in Workshops mit den Wildbacher:innen Lebenslinien (nach)zeichnete. Dieses Projekt erinnerte mich stark an das kollektive Kunstwerk Wilder Wald im Weidli von Bänninger+Wiskemannn, das in der Stiftung Weidli in Stans viel zur Integration behinderter Menschen beitrug.
«Ziel dieses Projekts ist es, mit jedem Künstler, mit jeder Künstlerin ein neues Fenster, einen neuen Blick auf die Welt reinzubringen. Es kann zu neuen Gedanken anregen, zu Gesprächen, zu physischem Mitarbeiten führen. (…) Die Leute, die hier sind, haben oft etwas, das in ihnen schlummert. Sobald jemand kommt und das anspricht, wacht das auf. Dann blühen sie auf.»
Karin Frei Rappenecker, Kuratorin Artists in Residence
Jolanda Wey, Pensionärin
Da ist die ehemalige Damenschneiderin Jolanda Wey (93), die Kunst und Kultur erst in hohem Alter für sich entdeckt hat. Besonders angetan ist sie von den Werken von Albert Anker (1831-1910) und Augusto Giacometti (1877–1947). Kunst spende Trost und biete Heimat, heisst es im Kommentar. Die Pensionärin blättert in einem Buch über Leben und Werk von Albert Anker und sagt:
«Ich lasse das Buch immer offen. Wenn ich heimkomme, schaue ich grad wieder rein. Es ist wie Heimkommen.»
Jolanda Wey, Pensionärin
Auf die Frage, warum gerade Albert Anker, meint sie, sie seien auch eine achtköpfige Familie gewesen. Durch die Kunst das eigene Leben besser verstehen, sich noch mal neu sehen: Ihre liebste Zeit seien die elf Jahre hier, sagt Jolanda Wey im Gespräch mit Eva Wannenmacher, im Alterszentrum sei sie aufgelebt und habe sich so frei gefühlt wie nie.
Rebecca Bowring: «Vers la Rive»
Da ist die Genfer Fotografin Rebecca Bowring, die an den Bieler Fototagen eine Arbeit zeigte, die sechs Frauen zwischen 75 und 96 portraitiert. In Vers la Rive präsentiert Bowring die in der Bieler Residenz Au Lac entstandenen Bilder wie in einem Fotoalbum — als wertvolle Erinnerungen, sorgfältig eingeklebt und durch ein Pergamentpapier geschützt — und macht mit dem gemeinsamen Erinnern und Erzählen ein feministisches Statement:
«Es gibt eine Tendenz, dass Frauen in gewisser Weise unsichtbar werden mit dem Alter. Man wird von der männlich geprägten Welt weniger betrachtet und erhält so weniger Beachtung von der Gesellschaft. Somit löst es ein Gefühl aus, unsichtbar gemacht zu werden.»
Rebecca Bowring im Kulturplatz
Michael Schindhelm: «The End of Aging»
Last but not least ist da der Regisseur und Kurator Michael Schindhelm, der sich mit der futuristischen Anti-Aging-Ausstellung The End of Aging in der «Kulturstiftung Basel H. Geiger» eine Welt ausmalt, in der es das Sterben nicht mehr gibt. Im Kulturplatz zitiert er den römischen Philosophen Cicero:
«Wir wollen alle alt werden, aber nicht alt sein.»
Cicero nach Michael Schindhelm
Milliardenschwere Tech-Giganten forschen und tüfteln an der Pille für das ewige Leben und viele Menschen möchten ihr Dasein auf dem Planeten möglichst verlängern. Zu Ende gedacht, braucht es in dieser utopischen «For-ever-young-Welt», in der niemand mehr stirbt, keinen Nachwuchs mehr — eine erschreckende Vorstellung, die Schindhelm mit seiner dystopischen Ausstellung vermittelte.
«The End of Aging» ist nicht zu Ende
Jede Ausstellung ist mal zu Ende, nicht aber Schindhelms Schau «The End of Aging», die uns das ewige Leben androht. Sie führt ein Doppelleben in der virtuellen Welt: Wer sie — wie ich — im Frühsommer 2024 verpasst hat, kann auf bidsforsurvival.com durch die nachgebauten, verlassenen Spitalräume gehen und sich die Exponate ansehen, z.B. die Riesenschildkröte Adwaita, die auf den Seychellen im hohen Alter von 255 Jahren doch noch gestorben ist. In den Videos, die im virtuellen, verlassenen Spital an der Wand hängen, erzählen führende Forscherinnen und sogar ein Nobelpreisträger von den aktuellen Möglichkeiten, das Altern wirklich zu stoppen. Die Erforschung der Langlebigkeit ist noch noch nicht weit vorangekommen, denn der Mensch sei keine simple Maschine und die Ursachen des Alterns höchst komplex, stellt Nobelpreisträger Venki Ramakrishnan in einer Videoinstallation fest. Und:
«Wichtig ist, diese Ursachen des Alterns existieren nicht in einem Vakuum. Sie stehen alle in Verbindung zueinander. Das Älterwerden ist also eine multifaktorielle Entwicklung.»
Venki Ramakrishnan in «The End of Aging»
Die virtuell konservierte Ausstellung «The End of Aging» hat’s bereits geschafft: Sie altert nicht mehr, sie veraltet nur noch. Mir bleibt die leise Hoffnung, dass das Schreckensszenario des ewigen Lebens auf Erden nicht so schnell Realität wird, dass ich es noch erleben muss.
26. September 2024 um 10:44 Uhr
Ich bin froh, dass Du das als Dystopie bezeichnest, lieber kulturflaneur. Ein Leben ohne Tod – mit der Wiederholung des Ewiggleichen und ohne Kinder – das ist eine schreckliche Vorstellung! Ich empfehle auch die Lektüre von Jonathan Swift’s „Gullivers Reisen“. Gulliver landet auch auf einer Insel namens Luggnagg und – ich ziterie aus der Wikipedia: „Die Luggnaggier berichten Gulliver von Unsterblichen, den Struldbrugs, die mit einem roten Fleck über der linken Augenbraue geboren werden. Die meisten Struldbrugs werden traurig, wenn sie das Alter von dreißig Jahren überschritten haben; mit achtzig beneiden sie diejenigen, die sterben können; mit zweihundert Jahren können sie, da sich die Sprache ständig verändert, mit den Sterblichen kein Gespräch mehr führen und werden foreigners in their own country (Fremde in ihrem eigenen Land)[6]. Gullivers Wunsch nach Unsterblichkeit hat sich durch dieses Erlebnis sehr vermindert.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Gullivers_Reisen