Letzte Woche sind wir — eine Kunstfachfrau und ein Kulturflaneur — nach Stans gefahren, um das Kulturprojekt «Wilderwald» des befreundeten Künstlerduos Christine Bänninger und Peti Wiskemann zu besichtigen. Mit viel Zeit und wenig Programm liessen wir uns neugierig treiben und stolperten von unerwarteter Kunst zu überraschender Kultur. Und so wurde aus einem Kulturausflügli ein gehaltvoller Kulturausflug.

Gelandet

«Gelandet» heisst die 2001 entstandene Deckenmalerei des Künstlers Paul Lussi.

Nach einer Schifffahrt von Luzern kreuz und quer über den Vierwaldstättersee nach Stansstad sind wir sozusagen in der Kunst gelandet. «Gelandet» ist denn auch der Titel eines Werks von Paul Lussi auf der Dachuntersicht der Schifflände Stansstad. Die 110 mit Leimfarbe bemalten Kassetten waren eine Entdeckung, die uns faszinierte und an den Bilderhimmel in der Wallfahrtskirche in Hergiswald erinnerte. Entstanden ist diese Kunst am Bau im Rahmen der Ausstellung «Stansstadart 2001», die von der Kulturkommission Stanstad veranstaltet wurde (vgl. visarte zentralschweiz).

Der Wilhelm Busch der Berge

«Stansstad im zwanzigsten Jahrhundert» — visionäre Zeichnung von Pater Emmanuel Wagner (um 1890)

Zwei Häuser weiter stolperten wir in eine kleine, aber feine Ausstellung in der Sust Stansstad. Die Kulturkommission Stansstad gibt noch bis Freitag, 27. August, Einblick in das Werk des Paters Emmanuel Wagner (1853 – 1907). Der Priester und Lehrer an der Stiftsschule Engelberg war vielseitig begabt und betätigte sich auch als Fotograf, Visionär, Zeichner und Kalendermann. „Der Engelberger Mönch Emmanuel Wagner hatte es faustdick hinter den Ohren. Seine visionären Zeichnungen lassen staunen“, schreibt Romano Cuonz in der Luzerner Zeitung. Cuonz bezieht sich in seinem Lead auf obige Zeichnung, die den Nidwaldner Kalender von 1890 zierte und nun raumhoch vergrössert wurde. Sie zeigt einen Zug, der aus einem Tunnel im Lopper auf die Achereggbrücke fährt. Diese Vision wurde erst 1964 Realität. Sehr cool finde ich auch die Frau auf dem Hochrad mit einem Kinderwagen als Veloanhänger.

Der „Wilhelm Busch der Berge“ war nicht nur pfiffiger Zeichner, sondern auch ein ausgezeichneter Fotograf.

Pater Emmanuels humoristischen Zeichnungen hatten etwas von Wilhelm Busch. Der Klostermann war aber auch ein sehr genauer Beobachter, der seine Umgebung fotografisch festhielt. Damals war das Fotografieren mit einem grossen Holzkasten als Fotoapparat, Glasplatten als Bildträger und langen Belichtungszeiten ziemlich aufwändig — umso toller sind Pater Emmanuels Fotos, die wertvolle Zeitdokumente sind.

Seine Unfallfotos sind Kult

Vierzig Jahre lang hielt Odermatt den Nidwaldner Polizeialltag in Fotos fest. Wie schon diese einfache Bildersuche auf Google zeigt, sind seine Bilder mehr als nur Unfallfotos.

Als wir auf dem Stanser Dorfplatz beim Kaffee sitzen, werden neben der Kirche Festbänke aufgebaut. Wir fragen die Bedienung, was das für eine Veranstaltung sei. „Es ist ein Gedenkanlass für den kürzlich verstorbenen Polizeifotografen Arnold Odermatt,“ sagt sie uns. Für alle, die den legendären Polizeifotografen nicht kennen: Der Nidwaldner Arnold Odermatt (1925 – 2021) war Polizist und begeisterter Fotograf. Seine Unfallfotos sind Kult, denn seine Arbeiten wurden 2001 von Harald Szeemann für die 49. Biennale Venedig ausgewählt. 2002 zeigte sie das The Art Institute of Chicago und 2004 das Fotomuseum Winterthur (Wikipedia). Gerne erinnern wir uns an diese schauerlich-schönen Fotos.

Wilder Wald im Weidli

«Wilderwald» ist ein kollektives Kunstprojekt von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung.

Bänninger+Wiskemann, das Zürcher Kunstduo, ist immer wieder auch in der Zentralschweiz aktiv, z.B. mit Kunst auf dem Flugplatz. Ganz in der Nähe des Flugplatz Buochs sorgen die beiden jetzt in der Tagesstätte der Stiftung Weidli in Stans dafür, dass Der wilde Wald im Weidli wuchert und wächst (Luzerner Zeitung vom 27.6.2021). «Wilderwald» ist ein kollektives Kunstprojekt von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, die in der Stiftung Weidli leben und arbeiten: KlientInnen der Stiftung bemalen Vorder- und Rückseite von Altkarton, Christine Bänninger und Peti Wiskemann zerschneiden den bemalten Karton in Streifen, die sie dann zusammenbostichen und neben der grossen Rollstuhlrampe der Tagesstätte an der Decke aufhängen — der wilde und vor allem bunte Wald im Weidli wächst also von oben nach unten.

Der wilde Wald im Stanser Weidli wächst und wuchert neben der Rollstuhlrampe von oben nach unten.

Integration ist das treffendste Stichwort zu diesem faszinierenden Kunstprojekt von Bänninger+Wiskemann: «Wilderwald» integriert nicht nur Menschen, die wegen ihrer Beeinträchtigung vom „normalen“ sozialen Leben ausgeschlossen sind, sondern auch ihre Angehörigen und ihr Umfeld, das zu Besuch kommt und den wuchernden Kartonwald bestaunt. Die positive Medienberichterstattung über das Kunstprojekt sorgt dafür, dass die Stiftung Weidli in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung erhält, und hilft so, eine unterschätzte, aber unverzichtbare soziale Institution in die Gesellschaft zu integrieren. «Wilderwald» integriert nicht nur über soziale Vernetzung und gesteigerte Akzeptanz, sondern auch als Kunstwerk, das die vier Stockwerke des Gebäudes verbindet: Wie uns der Leiter der Tagesstätte sagte, brauche es zur Überwindung der Höhendifferenzen eigentlich nur einen genügend grossen Lift, aber die „überdimensionierte“ Rollstuhlrampe sei von Anfang an als sozialer Treffpunkt konzipiert worden (breit genug, dass zwei Rollstühle kreuzen können, mit flachen Stellen zum Verweilen) und der wilde Wald steigere die integrative Funktion der Rollstuhlrampe. Die Rollstuhlrampe im Weidli, die schon als Betonskulptur ein halbes Kunstwerk ist, führt wie ein „Baumwipfelpfad“ durch den wilden Kartonwald von Bänninger, Wiskemannn & Co. — kein Chef-d’œuvre im engen Sinn, aber ein grossartiges, kollektives Kunstwerk bezüglich Integration.

Culinarium Alpinum

Das CULINARIUM ALPINUM,
das Stanser Kompetenzzentrum für Kulinarik im Alpenraum, ist auch eine Beiz.

Als ich am Vorabend von unserem Kulturausflügli ein bisschen recherchierte, wo wir allenfalls essen gehen könnten, geisterte das
CULINARIUM ALPINUM im ehemaligen Kapuzinerkloster durch meinen Kopf. Deshalb sind wir zum Abendessen tatsächlich dahin und haben im Klostergarten getafelt und dabei den milden Abend und die Aussicht genossen. Das Restaurant ist Teil des Stanser Kompetenzzentrums für Kulinarik im Alpenraum — wegen Corona hatte es im letzten Herbst keinen einfachen Start, scheint sich aber gut zu entwickeln — bietet abends zur Hauptsache eine Überraschungstavolata mit lokalen und regionalen Produkten an. Das war uns dann doch zu viel, aber die vier Gerichte, die wir aus der reichen Auswahl bestellt haben, waren ausgezeichnet und haben uns überzeugt. Und so wurde aus einem Kulturausflügli ein veritabler Kulturausflug mit einem kulinarischen Highlight als Abschluss.

Später habe ich im Hochparterre 1-2/21 nachgelesen, wie das Culinarium im Kloster (PDF) zustande kam: „Vor gut zwanzig Jahren mussten die Mönche ihr Haus aufgeben. Es begann ein Drama um die Klosterbrache. Der Hauptsitz eines Pharmakonzerns sollte einziehen, Lord Foster die Räume in repräsentativen Glanz verwandeln. Ein zweiter Anlauf der Nidwaldner Regierung scheiterte ebenso. Der dritte hat 2015 mit einem Investorenwettbewerb begonnen. Ein ‹Culinarium Alpinum› sollte es werden, ein Ort, wo die kulinarischen Traditionen der Alpen erforscht, gelehrt, gekocht und verspiesen werden. Das Publikum: Kostgängerinnen und Gutesser, aber auch Köchinnen und Wirte, die hier lernen. Seit letztem Herbst läuft der Betrieb.“ Besser und kürzer als Köbi Gantenbein kann man diese Geschichte nicht zusammenfassen.

Das Programm der Europäischen Tage des Denkmals 2021 und „Baukultur in Nidwalden — Umnutzung und Neuprogrammierung: Das Kapuzinerkloster in Stans“ (Dokumentation der Nidwaldner Fachstelle für Denkmalpflege)

Die Umgestaltung einer abgeschotteten Klosteranlage in ein öffentlich zugängliches Kulinarikzentrum ist kein leichtes Unterfangen, aber, wie das Fallbeispiel Kapuzinerkloster im Rahmen der Europäischen Tage des Denkmals 2021 zeigt, eine Erfolgsgeschichte. Die Idee, aus dem Kloster Stans ein Kompetenzzentrum für die alpine Kulinarik zu machen, ist eine Ko-Produktion der Immobilienentwicklerfirma Senn, die ich von Klimaspuren #9 in St. Gallen kenne, mit dem Ökonomen, Journalisten und Foodscout Dominik Flammer (Public History Food GmbH) und der Immobilienberatungsfirma Wüest Partner. Ob sich auch das Culinarium Alpinum zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt, wird sich erst noch zeigen.

Start «Wilderwald» in der Tagesstätte Weidli
auf der Kulturflaneur-Karte