Wegen der 50.3% JA zur Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ herrscht in der urbanen Schweiz immer noch Katzenjammer, Konsternation und Ratlosigkeit, obwohl das Votum schon mehr als drei Monate zurückliegt. Analysten und Kolumnistinnen versuchen zu erklären, wie es zu diesem demokratischen GAU kommen konnte. Die Diplomatie macht auf Schadensbegrenzung und PolitikerInnen suchen nach einem Weg, wie die Schweiz den Fünfer und das Weggli behalten kann…
In den letzten Monaten war ich nicht in Bloger-Stimmung, deshalb habe ich diesen Beitrag zur Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar erst jetzt fertiggestellt…
Ich glaube allerdings nicht, dass es möglich ist, die Zuwanderung aus der EU zu kontingentieren und zu beschränken, ohne die für die Schweiz wirtschaftlich wichtigen Bilateralen Verträge (u.a. zur Personenfreizügigkeit) künden zu müssen — schliesslich kann man das Fell des Bären auch nicht waschen, ohne dass es nass wird. Bis im Juni will der Bund ein Umsetzungskonzept erarbeiten, was aber nicht einfach wird, reicht doch das Spektrum der Vorschläge von einer Kontingentslösung, die von der SVP favorisiert wird und noch rigider ist als das System der 80er Jahre, bis zum EU-Beitritt, den die SP ins Auge fasst, um den gordischen Knoten zu lösen. Und bis im Dezember will der Bundesrat eine Gesetzesvorlage ausarbeiten, die dann als Diskussionsgrundlage in die Vernehmlassung geht und bei der EU auf Akzeptanz getestet werden kann.
Sollte sich allerdings in den Verhandlungen mit der EU herausstellen, dass die Masseneinwanderungsinitiative die Kündigung der Bilateralen Verträge mit der EU nach sich zieht, dann sollte das Stimmvolk entscheiden können, ob es wirklich das Ende des Bilateralen Wegs will. Denn die Abstimmung über die SVP-Initiative war keineswegs eine Abstimmung über die Zukunft des Bilateralen Wegs.
Wenn ich König der Schweiz wäre, hätte ich sofort nochmals abstimmen lassen, denn ich bin überzeugt, dass die Abstimmung jetzt anders herauskäme, 1. weil diejenigen, die ein Denkzettel-JA einlegten, dies nicht nochmals tun würden, 2. weil allmählich die unabsehbaren Konsequenzen sichtbar werden und 3. weil die Wirtschaftskreise sich diesmal auch persönlich für ein NEIN einsetzen würden. Aber ich bin nicht der König der Schweiz. Und: Es wäre zutiefst undemokratisch, wenn man nicht versuchen würde, den Volkswillen umzusetzen — aber bitte nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten!
19’526 Stimmen machten den Unterschied
Die Auflösung dieser interaktiven Karte lässt sich oben links mit einem Klick von der Bezirksebene auf die Kantonsebene umschalten. Quelle: Bundesamt für Statistik.
Die Karte oben und die Tabelle unten zeigen einen Polenta-Graben, einen Röschti-Graben und einen Stadt-Land-Graben. Wenn es in der Schweiz tatsächlich irgendwo ein Problem mit ausländischen Arbeitskräften gibt, dann im Tessin — allerdings nicht mit eingewanderten EU-Bürgern, sondern mit den Grenzgängern, die dank tieferen Lebenshaltungskosten in Italien sich leisten können, für weniger Lohn als die TessinerInnen zu arbeiten. Sie verdienen auch so noch mehr als in Norditalien. In der italienischen Schweiz ist denn auch der JA-Stimmenanteil 16 Prozentpunkte höher als in der Deutschschweiz und gar 26.6 Prozentpunkte höher als in der Romandie, die gegenüber der EU offener ist und die SVP-Initiative abgelehnt hat. Deutlich zu sehen ist auch der Röschti-Graben zwischen der Romandie (41.5% Ja) und der Deutschschweiz (52.0% Ja).
Der vor der Abstimmung viel zitierte Dichtestress scheint nicht den Ausschlag gegeben zu haben: Je urbaner ein Gebiet ist, desto niedriger die Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative — die grösseren Deutschschweizer Städte haben die Initiative allesamt abgelehnt. Wäre man die Probleme des Tessins früher angegangen, hätten die TessinerInnen nicht so massiv zugestimmt und es hätte für ein Nein zu dieser unsäglichen Initiative gereicht. Bei total rund 2.9 Mio. Stimmen ist diese Abstimmung angesichts der fehlenden 19’527 Nein-Stimmen aber überall und nirgends verloren gegangen — auch die Stadtzürcher StimmbürgerInnen hätten die Abstimmung im Alleingang kippen können.
Initiative »Gegen Masseneinwanderung«: Ja in % | ||||
Deutsche Schweiz |
Französische Schweiz |
Italienische Schweiz |
Gesamte Schweiz |
|
Zentren | 41.0 | 37.7 | 66.3 | 41.5 |
Agglomerationsgemeinden | 52.9 | 40.6 | 68.5 | 51.2 |
Isolierte Städte | 53.9 | 42.2 | 51.3 | |
Ländliche Gemeinden | 60.7 | 47.0 | 69.6 | 57.6 |
Schweiz | 52.0 | 41.5 | 68.0 | 50.3 |
Differenzen (in Prozentpunkten) | ||||
Deutsche – französische Schweiz | 10.6 | |||
Deutsche – italienische Schweiz | -16.0 | |||
Französische – italienische Schweiz | -26.6 | |||
Stadt – Land | -9.9 |
Ablehnung in Gebieten mit hohem Ausländeranteil — ein Paradox!
Man könnte meinen, dass die SVP-Initiative „Gegen Massenwanderung“ da angenommen wird, wo viele AusländerInnen leben und wo es allenfalls auch Probleme und Konflikte gibt, aber es war genau umgekehrt: Je geringer der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung, desto höher die Zustimmung zur Initiative. Plakativer ausgedrückt: Diejenigen, die AusländerInnen nur vom Hörensagen kennen, haben Angst vor einer Masseneinwanderung.
Es ist tatsächlich ein bisschen absurd: Von den JA-Kantonen haben nur gerade Schaffhausen und der Tessin einen überdurchschnittlich hohen Ausländeranteil, unter den NEIN-Kantonen sind drei, die einen relativ geringen Ausländeranteil aufweisen (Wallis, Fribourg und Jura). Ging es womöglich gar nicht um die Einwanderung?
Frapante Ähnlichkeit der Karten
Am 8. Februar 2009 stimmte die Schweiz über eine ähnliche Frage ab: über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit Schweiz-EU auf die neuen Mitgliedsländer Bulgarien und Rumänien. Damals sagte die Schweiz noch mit fast 60% JA.
Vergleicht man diese Karte mit der Karte zur SVP-Initiative stellt man eine frapante Ähnlichkeit fest, allerdings sind die Farben vertauscht: Dunkelgrün entspricht violett und umgekehrt rosa hellgrün. Grund dafür ist, dass wer für die Personenfreizügigkeit ist, 2009 JA und 2014 NEIN stimmen musste. Nur: In den fünf Jahren hat die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit um fast 10 Prozentpunkte abgenommen.
In nur fünf Jahren hat also die Stimm-Schweiz ihre Meinung bezüglich Zuwanderung geändert: Waren 2009 noch 59.6% für die Erweiterung der Personenfreizügigkeit, stimmten vor zwei Monaten nur noch 49.7% gegen die Initiative. In der folgenden Karte habe ich obige Karten übereinandergelegt und die Kippbezirke, die vor fünf Jahren die Personfreizügigkeit befürwortet haben, aber jetzt gekippt sind und auch die Initiative gegen die Masseneinwanderung angenommen haben, rot angemalt.
Fazit: Nicht nur die Agglo ist gekippt — wie es in einigen Analysen hiess — sondern grosse Teile der Schweiz (rot). Standhaft bei ihrer liberalen Haltung gegenüber Ausländern blieben die Romands, die BündnerInnen und die Deutschschweizer Städte (rosa bis violett). Ihre ausländerfeindliche Haltung beibehalten haben die TessinerInnen und die erzkonservativen Landregionen, die nur geringe Ausländeranteile aufweisen, aber dennoch schon vor fünf Jahren gegen die Ausweitung der Personenfreizügigkeit gestimmt haben (grün).
Schreibe einen Kommentar