Zehn Jahre lang habe ich am Zürichsee gewohnt und gearbeitet. Eine Einladung nach Männedorf brachte mich letzten Sonntag zurück an die erweiterte Goldküste*). Der schöne Altweibersommer veranlasste uns, früher aufzubrechen und eine kleine Wanderung zu machen — für mich ein nostalgischer Trip in die Vergangenheit.
Hier die Route unserer Wanderung von Feldbach bis Männedorf:
1 Voralpen-Express
An einem goldenen Herbsttag ist schon die Anfahrt mit dem Voralpen-Express von Luzern nach Rapperswil ein Erlebnis: Landschaftlich ist die Strecke eine Augenweide. Von Rapperswil geht es mit der S7 weiter nach Feldbach.
2 Gmüesgarte Schirmensee
Hier produziert**) Gemüsebauer Mark Gnant Biogemüse, das er im Abo frei Haus liefert. An das wöchentliche Gemüsekistchen, das immer gut für eine Überraschung war, denke ich mit Wehmut zurück: Seit ich nicht mehr in Stäfa wohne, wünsche ich mir wieder solch knackiges, geschmackvolles und lang haltbares Gemüse, das ohne Aufwand nach Hause geliefert wird. Mark ist aber auch ein Charakterkopf: Einer Kundin, die an seinem Marktstand nach Bärlauch fragte, beschied er cool, Bärlauch habe er nicht, den könne sie im Wald holen.
3 In der letzten S-Bahn eingeschlafen
Einmal bin ich in der letzten S-Bahn von Zürich nach Stäfa eingenickt und erst wieder aufgewacht, als die S7 die Station schon wieder verliess. In der Folge musste ich die Strecke von Uerikon nach Stäfa zu Fuss zurückgehen. Jedes Mal, wenn ich da vorbeikomme, muss ich peinlich berührt an diese unfreiwillige Nachtwanderung denken.
4 Kindliche Wegelagerer
Vor Jahren war ich Housesitter in Uerikon. Auf der steilen Treppe, die dem Rebberg entlang aufwärts führt, wurde ich auf dem Weg zum Haus, das ich hütete, von Kindern aufgehalten, die ultimativ einen Wegzoll forderten. Wir seien nicht mehr im Mittelalter, wo man an jeder Ecke einen Zoll entrichten musste, sagte ich ihnen und drängte mich vorbei. Da waren sie ein bisschen enttäuscht, hatte es doch bei der älteren Frau, die vor mir die Treppe raufstieg, noch wunderbar geklappt — sie hatte ohne Murren ihr Portemonnaie gezückt und einen Obulus bezahlt.
5 Auch Goethe war hier
Dass Johann Wolfgang von Goethe 1797 bei seinem Aufenthalt in Stäfa vom Goethebänkli aus diesen grossartigen Blick auf den Zürichsee, die Insel Ufenau, den Etzel und die Alpen genoss, ist anzunehmen, aber nicht belegt. Sicher ist nur, dass die Bank damals noch nicht Goethebänkli hiess…
6 Umkämpfter Stäfner Stein
Der Stäfner Stein ist Ziel mancher Bootsfahrt, aber auch von SchwimmerInnen, die von der Liegewiese beim Kehlhof etwa 250 Meter hinausschwimmen, um auf der Untiefe mitten im Zürichsee im nur knietiefen Wasser herumzuwaten und sich zu fühlen wie Jesus, der übers Wasser geht. Lange Zeit war der Stein in den Rastafarben grün – gelb – rot angemalt und mit einem Hanfblatt verziert. Dann plötzlich war der Stein rot gestrichen und mitten drauf prangte ein weisses Schweizerkreuz. Doch der patriotische Spuk dauerte nur ein paar Wochen, dann setzte die Kifferfraktion ihre Farbgebung wieder durch. Welche Bemalung jetzt gerade aktuell ist, weiss ich leider nicht.
Vor rund zwanzig Jahren sind wir mit meinem Göttibub, der damals etwa vier war, zum Stäfner Stein hinaus gerudert. Auch mit gut Zureden konnten wir Erwachsenen ihn nicht zum Aussteigen bewegen. Und als wir alle aus dem Boot stiegen, um ihm zu zeigen, wie untief das Wasser beim Stäfner Stein ist, ergriff ihn die Panik. Es blieb uns nichts anderes übrig, als wieder zurück ins Boot zu steigen und ihn zu beruhigen…
7 Guter Wein mit gruseliger Etikette
Unterhalb des Stäfner Friedhofs wächst der „Totenbeinler“, ein guter Pinot noir — nur der Name und die Weinetikette sind etwas gruselig:
Während zwei, drei Jahren habe ich sporadisch auf dem Weinbaubetrieb von Stefan Reichling mitgeholfen, Netze über die Reben zu spannen und wieder herunterzuholen, Trauben zu ernten und Wein abzufüllen. Das war strenge Arbeit, hat aber auch Spass gemacht — vor allem wenn der Lohn kam, den ich mir in Form von Wein auszahlen liess.
8 Aufmüpfiges Stäfa — militärisch besetzt
Unter dem Einfluss der Aufklärung und der französischen Revolution wurde 1794 in der Stäfner Lesegesellschaft das Stäfner „Memorial“ verfasst, das selbstbewusst mehr Rechte und Freiheiten für die Landbevölkerung forderte. Doch die Zürcher Regierung wollte auf diese Forderungen nicht eingehen und verwies 1795 die Verfasser des Memorials des Landes. Als sich dann die Landbevölkerung mit den Stäfnern solidarisierte und ein Aufstand zu befürchten war, bot die Regierung 4000 Mann auf und liess Stäfa militärisch besetzen. Als Kanonen auf dem Kirchbühl aufgestellt wurden, war der Widerstand der Landleute gebrochen, doch auch die Zürcher Regierung konnte sich nur noch bis 1798 halten, als die Franzosen in Zürich einmarschierten. Der „Stäfner Handel“ fand als Vorbote der Helvetischen Revolution weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. Eine etwas detailliertere Darstellung dieser interessanten Geschichte findet sich auf Wikipedia.
9 Das Kulturkarussell dreht sich und dreht sich
Im Rössli Stäfa, das lange Zeit eine genossenschaftlich geführte Beiz war (die Genossenschaft wurde nur wenige Monate nach der Genossenschaft Kreuz in Solothurn gegründet), hatte ich in den 90er Jahren meine erste Stelle als Kulturveranstalter. Das Kulturkarussell, das während der Saison wöchentlich eine Veranstaltung durchführt, dreht sich immer noch. Damals hatten wir noch mehr Theater und Tanztheater auf dem Programm, heute veranstaltet das Kulturkarussell fast nur noch Konzerte. Seit 1997 hat das Kulturkarussell eine Homepage, für deren Update ich bis diesen Sommer zuständig war — auch das animierte Rössli, das nun bald 15 Jahre unermüdlich über die Startseite der Homepage galoppiert, soll nun bald pensioniert werden:
10 Eine Walpurgisnacht mit Folgen
Die Walpurgisnacht am 30. April ist für Veranstalter ein ideales Datum für eine Party, weil viele am 1. Mai frei haben und ausschlafen können. Darum hat sich das Kulturkarussell in den 90er Jahren für die Walpurgisnacht etwas Besonderes einfallen lassen: 1992 oder 1993 war es ein grosses Feuer und eine Performance auf einer Wiese beim Hexentanz (Stäfner Flurname).
In der Folge kürzte die Gemeinde Hombrechtikon ihren Beitrag ans Kulturkarussell mit der Begründung, wir würden heidnische Bräuche wieder aufleben lassen. Wahrscheinlich landen deshalb in Hombrechtikon die Harry-Potter-Bücher auf dem Scheiterhaufen…
11 Kino Wildenmann wird digital
Auch in Männedorf, dem Ziel unserer Wanderung, gibt es einen Kulturbetrieb für den ich gearbeitet habe: im Kino Wildenmann, das 1998 nach einem Brand wie der Phönix aus der Asche neu erstand, war ich jahrelang als Aushilfsoperateur tätig. Dieses genossenschaftliche Dorfkino hat zur Zeit ein recht grosses Problem: Der analoge 35mm-Film ist ein Auslaufmodell, die Kinowelt wird digitalisiert und Filmkopien sind bald nur noch in digitaler Form zu haben. Diese Digitalisierung bringt gerade den kleinen „Landkinos“ grosse Vorteile: Sie bekommen die Filme früher, die Programmation wird flexibler (Filme, die gut laufen, können länger gezeigt werden), der technische Aufwand verringert sich (das Zusammensetzen und Auseinandernehmen der Filmrollen entfällt) und die Projektion ist makellos. Aber: Die Umstellung auf digitale Projektion ist teuer. Zu hoffen ist, dass die Genossenschaft Kino Wildenmann das notwendige Geld auftreiben kann und die Lichter im Dorfkino nur ausgehen, wenn der Film beginnt.
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*) Goldküste ist die gängige Bezeichnung für die reichen Gemeinden am rechten Zürichseeufer bis etwa Meilen. Stäfa, mein ehemaliger Arbeits- und Wohnort ist noch etwas weiter von Zürich entfernt, aber auch recht wohlhabend. Das gegenüber liegende Ufer ist etwas weniger wohlhabend und hat den Übernamen Pfnüselküste (Pfnüsel = schweizerdeutsch für Schnuppen), weil die Gegend etwas schattiger ist als die Goldküste.
**) Hier wäre die Vergangenheitsform angebracht. In einem Kommentar hat Mark mich darauf hingewiesen, dass er die Produktion von Biogemüse inzwischen eingestellt hat.
12. Oktober 2011 um 10:42 Uhr
mein lieber hr
wie schön, hast du zeit durch unsere region zu flanieren.
flanieren darf jetzt auch ich. suche neue aufgaben und genüsse, zum beispiel den genuss sich glücklich verlieben zu können. oder eben dem bärlauch selbst nach zu stellen.
die nase zusehr in der aufreibenden arbeit, gelenke und knochen zu alt für existenzsicherndes einkommen und unerfüllbare wünsche gewisser kunndInnen im ohr, haben mich bewogen mich von allem zu befreien, meinen lebenstraum zu grabe zu tragen. RIP.
einen ganz lieben dank all jenen, die das gemüse einfach genossen haben.
das rav ist reine verwaltung und das sozialamt hat wenig mit sozial zu tun. trotzdem hab ich nach anderthalb jahren burn-out, achterbahn und wilde maus, x absagen und einer verblühten sommerliebe die hoffnung nicht auf gegeben, eine aufgabe für die allgemeinheit in einem team uneigennütziger generalisten zu finden. und ich habe gefunden, das nächste halbe jahr arbeite ich für die ausstellung >verdingkinderreden.ch< in zürich und ich freue mich.
en liebe gruess
mark
12. Oktober 2011 um 22:52 Uhr
REPLY:
…dass Du, lieber Mark, diesen Bericht lesen würdest.
…dass es den Gmüesgarte Schirmensee nicht mehr gibt. RIP!
…dass ich ein so persönliches Echo bekommen würde.
Danke für Deine Offenheit. Und ich wünsche Dir von Herzen, dass es im Leben wieder aufwärts geht, dass Du auch längerfristig eine erfüllende Aufgabe findest und dass Du wieder ruhigere Gewässer ansteuern kannst. Alles Gute!
Herzliche Grüsse
hr