An den Gestaden des Lago Maggiore spazieren wir nach Tenero. Unterwegs stossen wir auf die Spuren der Reisläuferei und an einer Hauswand in Locarno auf eine Inschrift, die an den russischen Revolutionär und Anarchisten Bakunin (1814 – 1876) erinnert, der ab November 1869 etwa drei Jahre in der Stadt gelebt hat. Der Mann war ständig auf der Suche nach revolutionärer Action — ein reisender Revolutionär.

Von Orselina führen zahlreiche Treppenwege runter nach Muralto am Lago Maggiore. Am See öffnet sich der Blick:

Am Lago Maggiore

Am Seeufer reicht der Blick von der Magadino-Ebene im Osten über den Monte Tamaro und den Monte Gambarogno im Süden bis nach Locarno im Westen.

Locarnos Lakefront

Locarnos Lakefront

Das Seeufer zwischen Locarno und Tenero ist grösstenteils öffentlich zugänglich.

Das Seeufer zwischen Locarno und Tenero ist grösstenteils öffentlich zugänglich.

An den Gestaden des Lago Maggiore gehen wir nicht nach Locarno, sondern wenden uns nach links und folgen der Seepromenade, die in Minusio in ein schmales Strässchen übergeht, das die Häuser zwischen See und Bahnlinie erschliesst. Der Lungolago nach Tenero gehört nicht nur zu den zehn von www.ticinotopten.ch empfohlenen Wanderungen, sondern ist ein gigantischer Freizeitpark — hier machen sich Spaziergänger mit Hunden, telefonierende Mütter mit Kinderwagen, Jogger und Inline-Skaterinnen, Velopendler auf dem Weg zur Arbeit und radfahrende Schulklassen gegenseitig den Platz streitig. Das Ufer bietet Zugang zu den Segelbooten, die an Bojen im See draussen auf ihren nächsten Einsatz warten, ist Ausgangspunkt für Surfer und Stehpaddlerinnen, Kinderspielplatz und Picnic-Zone.

San Quirico in Minusio

San Quirico in Minusio

Neben diesen vielfältigen Freizeitaktivitäten gibt es auch Sehenswürdigkeiten:

Zuerst die 1313 erstmals erwähnte Kirche von San Quirico, die auf einem Hügel oberhalb der Bahnlinie thront. Während der romanische Kirchturm früher als Wachturm diente, entstand das eigentliche Kirchgebäude im barocken Stil erst später, zwischen 1795 und 1834.

Wehranlage Cà di Ferro in Minusio

Wehranlage Cà di Ferro in Minusio

Dann die Wehranlage Cà di Ferro. Das schlossartige Gebäude, das der Urner Söldner Peter A Pro — Oberst in französischen Diensten — von 1540 bis 1580 erbauen liess, diente als Anwerbungskaserne für Schweizer Söldner (Reisläufer). Die arme Bevölkerung des Tessins, das bis 1798 Untertanengebiet der Eidgenossenschaft war, bot ein ideales Reservoir für die Rekrutierung von Söldnern. Durch die Reisläuferei, die für das Innerschweizer Patriziat ein lukratives Geschäft und Gelegenheit zum sozialen Aufstieg war, wurde die Familie A Pro so reich, dass Peter A Pro 1578 einen grossen Teil seines Vermögens in eine Armenstiftung einbringen konnte (vgl. www.swisscastles.ch über Cà di Ferro und Schloss A Pro).

Ein Anarchist in Locarno

Von Tenero, weltbekannt für seine sieben Campingplätze, nehmen wir die S20 zurück nach Locarno, wo wir uns nach dem Mittagessen ein bisschen umschauen und an einer Hauswand auf diese Inschrift stossen:

Hier lebte M. Bakunin — anlässlich des 200. Geburtstags am 30.5.2014

Hier lebte M. Bakunin — anlässlich des 200. Geburtstags am 30.5.2014

Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814 - 1876)

Michail Alexandrowitsch
Bakunin (1814 – 1876)

Dass der russische Revolutionär und Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814 – 1876) Bezüge zur Schweiz hatte, weiss ich schon lange, und auch, dass er zeitweise im Tessin gelebt hat, aber im beschaulichen Locarno? Als ich mich auf Wikipedia über Bakunins Leben informierte, merkte ich: Schon mal sind wir in den Ferien auf Bakunin gestossen — 1849 war er in der Festung Königstein eingelocht, 2013 machten wir dahin einen Ausflug in die Vergangenheit. Würden wir überall da Ferien machen, wo sich Bakunin — sei es freiwillig, sei es gezwungenermassen — einmal aufgehalten hat, würden uns die Ferienziele nicht ausgehen. Auf seiner abenteuerlichen Fluchtroute würden wir über Sibirien, Yokohama, San Francisco, Panama-Stadt und Boston einmal um die Welt reisen. Bakunin war Zeit seines Lebens unterwegs für die Revolution: Zwischen 1840 und 1874 gab es in Europa keinen Aufstand, keine sozialistische Bewegung und kein Revolutiönli ohne Bakunin.

«Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!» (Bakunin 1842)

Mit diesem dialektischen Satz wurde Bakunin in revolutionären Kreisen berühmt und bei den Herrschenden in ganz Europa zum Staatsfeind. Den Staat und jede Form institutionalisierter und zentralisierter Autorität lehnte er ab. Er wandte sich deshalb gegen Revolutionen, die nur zu einem Machtwechsel führen (wie die französische Revolution), denn er war überzeugt, dass jede politische Revolution direkt wirtschaftliche und soziale Gleichheit anstreben sollte, also eine Gesellschaft ohne Klassen und mit dem gleichen Zugang zu Produktionsmitteln und Bildung. Für Bakunin spielte es keine Rolle, ob die Herrschaft eine königliche Herrschaft ist, die marxistische Diktatur des Proletariats oder die auf allgemeinem Wahlrecht basierende Volksherrschaft, denn diese stellt letzten Endes nichts anderes dar, „als die Beherrschung der Massen von oben nach unten durch eine intellektuelle und eben dadurch privilegierte Minderheit“. Mit dieser Haltung bekam er Krach mit Karl Marx, der im kommunistischen Manifest forderte, „alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren“.

Der Zwist zwischen Bakunin und Marx spaltet die sozialistische Bewegung bis heute

Der Zwist zwischen Bakunin und Marx spaltet die sozialistische Bewegung bis heute

Der Konflikt zwischen Karl Marx und Bakunin, der in der Ersten Internationalen Arbeiter-Assoziation ausgetragen wurde, war richtungsweisend für die gesamte sozialistische Bewegung und endete 1872 mit dem Ausschluss Bakunins am Haager Kongress und mit der Abtrennung der anarchistischen von der restlichen sozialistischen Bewegung. Aus dem Gegenkongress, der ein Woche später im jurassischen St. Imier stattfand, entwickelte sich die Antiautoritäre Internationale, die sich allerdings schon 1877, nach ihrem letzten Kongress im belgischen Verviers, faktisch auflöste.

Villa La Baronata

Villa La Baronata

1873 schrieb Bakunin sein Werk „Staatlichkeit und Anarchie“. „Im Oktober 1873 beschloss Bakunin seinen Rückzug aus der anarchistischen Arbeiterbewegung und verliess die Juraföderation, im Glauben, nichts mehr für die Bewegung tun zu können. Zu dieser Zeit war er von einer schweren Krankheit gezeichnet und resignierte, da sich seine Erwartung der nahen Revolution nicht erfüllt hatte und der Glaube daran schwand.“ (Wikipedia) Mit finanzieller Unterstützung Carlo Cafieros kaufte er im selben Jahr die Villa La Baronata in Minusio, die zum Zufluchtsort für polizeilich gesuchte Revolutionäre werden sollte (und die wir leider verpasst haben). Nach einem Zerwürfnis mit Cafiero zog er nach Lugano. Bakunin, der reisende Revoluzzer, erlebte das Ende der Antiautoritären Internationalen nicht mehr, er starb 1876 in Bern.

⇒ Die erwähnte Inschrift ist auch auf stories & places verlinkt.