Am 8. Dezember ist der ehemalige Kinokönig von Zürich, Anton Eric Scotoni, im Alter von 95 Jahren gestorben. Seine Todesanzeige erinnerte mich an ein dunkles Kapitel aus der Familiengeschichte der Scotonis, das zu Beginn der 90er Jahre Furore machte: Die Terra war eine deutsche Filmgesellschaft in Berlin, die Anfang der 1930er Jahre von den Scotonis übernommen wurde, rasch zu einem der bedeutendsten Filmkonzerne des Filmkonzerne des „Dritten Reichs“ aufstieg und bis 1935 über vierzig Filme produzierte, u.a. den ersten abendfüllenden Propagandafilm des Nationalsozialismus Blutendes Deutschland.
Mit der Terra hatte Anton Eric Scotoni nichts zu tun — es war sein 15 Jahre älterer Bruder Raphael „Ralph“ Scotoni (1901 – 1955) (vgl. auch von seinem Enkel Ralph T. Scotoni verfasste Biografie), der von „Clanchef“ Eugen Scotoni-Gassmann nach Berlin geschickt wurde, um die Familieninteressen zu vertreten und als Generaldirektor die Terra zu führen. Unter Ralph Scotonis Gesamtleitung produzierte die Terra zum Beispiel eine nationalsozialistisch geprägte Version von Wilhelm Tell. Im Herbst 1933 wurde das Schweizer Heldenepos ideologisch konform verfilmt: Der Film zeigt den mittelalterlichen Helden, der historisch wahrscheinlich nie existiert hat, als „Führer“. Gedreht wurde „das Freiheitsdrama eines Volkes“ (Terra-Inserat) in der Innerschweiz und im Wallis — mit zahlreichen NS-Exponenten in den Haupt- und Schweizer Statisten in den Nebenrollen. Görings Verlobte Emmy Sonnemann spielte Tells Frau. Zur Uraufführung an Hermann Görings 41. Geburtstag kam fast die gesamte Nazi-Prominenz in den illustren Berliner Ufa-Palast, auch Hitler, Goebbels und Innenminister Frick wollten den Blut-und-Boden-Tell von Terra sehen.
1988 – 1991 arbeitete ein Recherche- Team um Thomas Kramer und Dominik Siegrist die Geschichte des Schweizer Filmkonzerns im Dritten Reich auf. Das Resultat war ein Buch und eine Konzeptveranstaltung in der Roten Fabrik:
Das Buch von Thomas Kramer und Dominik Siegrist dokumentiert und analysiert die überaus spannende Geschichte der Terra und ihrer Filme. Es ist 1991 im Chronos-Verlag erschienen: Terra — ein Schweizer Filmkonzern im Dritten Reich, mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Jost, Chronos-Verlag Zürich, 1991. 130 Seiten, 60 Abbildungen, 30 Franken / 17 Euro.
Präsentiert wurde das Buch in der Konzeptveranstaltung „Braune Helden — weisse Westen“ in der Roten Fabrik in Zürich. In diesem Rahmen wurden im April und Mai 1991 acht der brisantesten Terra-Filme gezeigt, u.a. auch ein Fragment von „Blutendes Deutschland“ (17 Min.) und die englischsprachige Version des „Wilhelm Tell“ (62 Min.). Dazu produzierte das Vaudeville-Theater ein Theaterprogramm mit Quellentexten, szenisch-musikalischen Einlagen und eigenen Kommentaren. Abgerundet wurde die Konzeptveranstaltung durch ein Seminar zu den Wirtschaftsverflechtungen zwischen der Schweiz und dem „Dritten Reich“.
Der jetzt verstorbene Kinokönig von Zürich teilte mit seinem älteren Bruder Ralph die Leidenschaft für den Film, betrieb den Ascot Elite Filmverleih und kontrollierte zeitweise zusammen mit der Jean-Frey-Gruppe ein Dutzend Zürcher Kinos. Gerne lud er Filmstars nach Zürich ein: Audrey Hepburn, Sophia Loren, Gina Lollobrigida, Roger Moore, Jean-Paul Belmondo — sie alle kamen, wenn „AES“ zur Premiere rief (vgl. Das Rätsel der unbewohnten Villa von Mario Stäuble im Tages-Anzeiger vom 7.3.2011 — mehr oder weniger ein vorgezogener Nachruf auf die schillernde Unternehmerpersönlichkeit).
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