Noch an der Weltausstellung 1992 in Sevilla waren wir sicher, dass es uns gar nicht gibt. Zehn Jahre später behaupten wir das Gegenteil und zelebrieren die Swissness wie noch nie, so dass man Gefahr läuft erschweizert zu werden. Doch manchmal trifft man auch auf einen intelligenten, spielerischen und witzigen Umgang mit Swissness.


An der Weltausstellung 1992 behauptete der Künstler Ben Vautier keck, dass die Schweiz nicht existiert (Bildquelle: Blog von Christoph Roos, der sich ebenfalls über Swissness Gedanken macht) — heutzutage sind im Sommer häufig solche Schweizerkreuz-T-Shirts auszumachen, die mit offensichtlichem Stolz getragen werden (Bildquelle: www.switzerland.org).

Mir ist solch offensichtlich zur Schau getragener Nationalstolz suspekt, aber interessant ist, dass sich in den letzten zehn, zwölf Jahren zahlreiche Kulturprojekte auf innovative Weise mit der Schweiz, ihrem Selbstverständnis und den helvetischen Wurzeln auseinandersetzten:

  • In der Volksmusik z.B. gibt es neben den ganz traditionellen Musikgruppen und Jodelchören schon länger eine Strömung, die die musikalischen Wurzeln neu interpretiert und mit zeitgenössischer Musik kombiniert: Etwa das Trio Doppelbock mit Christine Lauterburg, das lebendigen urbanen Schweizer Folk spielt und am 24.2. im Kreuz Solothurn auftritt, oder Eliana Burki, die mit ihrer Band iAlpinisti zeigt, dass dem Alphorn auch jazzige und funkige Töne zu entlocken sind.
  • Unter den Schweizer Filmen, die an den soeben zu Ende gegangenen 47. Solothurner Filmtagen präsentiert wurden, hat DRS-Filmredaktor Michael Sennhauser einige Filme gesehen, die durchaus als innovative Heimatfilme durchgehen. Aus der Sparte Dokumentarfilm, einer Stärke des hiesigen Filmschaffens, hat er zwei Film herausgehoben, die sich kritisch mit der Rolle der Schweiz im Globalisierungsprozess auseinandersetzen: Vol spécial und Bottled Life.
  • Dass sich die helvetische Literaturszene ständig mit der Schweiz auseinandersetzt, liegt in der Natur der Sache: Wir sind innerhalb einer Sprache zweisprachig (vgl. Referat von Hugo Loetscher: Unser klassisches Deutsch). Wie fruchtbar diese Auseinandersetzung in den letzten Jahren war, bleibe dahingestellt. Festzustellen ist jedenfalls, dass wieder mehr AutorInnen in Mundart schreiben: Ernst Burren, Pedro Lenz, Guy Krneta, Sandra Künzi, Beat Sterchi und Gisela Widmer.
  • Auch im Theaterbereich gibt es immer wieder Stücke, die sich mit Swissness auseinandersetzen: z.B. die Gotthelfadaption Anne Bäbi im Säli von Beat Sterchi oder das Stück Eidgenössisch Moos von Ruedi Häusermann, Herwig Ursin, Jan Ratschko — einen guten Eindruck vermittelt dieses Video:


Ausschnitte aus Eidgenössisch Moos, hochgeladen von Ochsenklar.

Der Clip zeigt, wie viel Spielfreude das Schauspieler/Musiker-Trio an den Tag legt, um fürs Publikum Augen- und Ohrenwitz zu produzieren. Das Stück ist eine furiose Szenencollage: Die Vorbereitungen für den alljährlichen Unterhaltungsabend bilden die Rahmengeschichte — Proben, Sitzungen des OKs und das Hin und Her um die musikalische Unterhaltung werden unterbrochen von zahlreichen, ebenso liebevoll gezeichneten Nebengeschichten: einem Diavortrag über Kasi Geisser (eine Grösse der Schweizer Volksmusik), kulinarischen Kurztexten von Robert Walser, einem Mundartsprachkurs ab Kassettenrekorder, alten Traditionen — neu entdeckt (einer Präsentation von „erfundenen“ Bräuchen) etc. etc. — unmöglich, den Überblick zu behalten, aber dennoch gibt es zahlreiche Querverbindungen zwischen den einzelnen Erzählsträngen. Das Resultat: Ein vergnüglicher „Heimatabend“ voll Spielfreude und verschrobenem Humor. Und: Nach dem Hin und Her in der Aufführung sorgte das Trio Eidg. Moos nach der Aufführung tatsächlich für musikalische Unterhaltung — mit einer Stubete in der Bar. So spielerisch präsentiert, sind sogar Ländlermusik und die neue Swissness erträglich.

Klar ist jedoch: Die neue Swissness ist eine Gratwanderung. Der Grat zwischen Folklorisierung und unreflektierter Heimattümelei auf der einen Seite und der Vermarktung der Schweiz in einer globalisierten Welt auf der anderen Seite ist extrem schmal. Die neue Swissness stösst nicht überall auf Begeisterung — in einem lesenswerten Essay fordert der Autor Martin R. Dean in der WoZ Ein Bild der Schweiz, das alle einschliesst.

PS. Frage nach Deutschland und Österreich: Gibt es eigentlich auch eine neue „germanness“ oder „austrianess“?