„Ich möchte meine Berge sehen“, soll Giovanni Segantini (1858 – 1899) auf dem Sterbebett gesagt haben — nach einem nicht einfachen, allzu kurzen, aber erfüllten Leben. 1971 hat Joseph Beuys (1921 – 1986) aus diesen „famous last words“ seine erste raumfüllende Installation entwickelt, sozusagen als Hommage an Segantini. Und gestern haben wir uns den neuen Film Giovanni Segantini — Magie des Lichts angesehen: Schöne Bilder, schöne Töne, aber dennoch irgendwie unbefriedigend…

Der Trailer vermittelt einen guten Eindruck dessen, was der Film zu bieten hat: Segantinis Lebensgeschichte anhand von Texten aus Asta Scheibs biografischem Roman Das Schönste, was ich sah (dtv, 2011), gelesen von Mona Petri, Gedanken und Statements von Segantini anhand von Originalzitaten, gelesen von Bruno Ganz, zahlreiche Gemälde von Segantini, aufgenommen mit einer hochauflösenden Kamera, wunderschöne (Stadt- und Berg-)Landschaften, gefilmt von Kameramann Pio Corradi, sowie Musik von Paul Giger mit dem Carmina Quartett. Hinzu kommen historische Fotos und Familienbilder.

Filmemacher Christian Labhart, ist eine bekennender Segantini-Fan. Sorgfältig und einfühlsam montiert er Texte, Töne und Bilder zu einem filmischen Essay über Leben und Werk von Segantini und zu einer Hommage an den Magier des Lichts. Allerdings wurde das Verknüpfen der verschiedenen Bild- und Tonebenen zu einer grossen Herausforderung: „Es war eine Gratwanderung zwischen Illustration und persönlichen Zugang zum Thema. Zusammen mit der Cutterin Annette Brütsch versuchte ich, alle am Film beteiligten Künstler mit ihren eigenständigen Statements zu Segantini ernst zu nehmen — wir wurden zu Kuratoren einer filmischen Installation.“ schreibt Labhart über die Montage des Films.

Dass Segantini keinen einfachen Start ins Leben hatte und auch später nicht alles rund lief, klammert der Film nicht aus, aber Schwierigkeiten aller Art gehören nun mal zu einer Tellerwäscherkarriere, auch zu der eines genialen Künstlers — sie steigern die Leistung des Talents, das sich trotz aller Widrigkeiten entfaltet hat. Labharts Blick auf Leben und Werk ist nicht unkritisch, aber dennoch insgesamt idealisierend. Möglicherweise ist es das, was einem am Ende dieses gut gemachten, etwas meditativen Künstlerportraits ein bisschen ratlos lässt.

Segantini — so habe ich jedenfalls den Eindruck — hat nicht schneller gelebt als andere, aber intensiver:

«Ich sah Blumen weinen und Würmer lächeln.
Ich habe nicht einfach vegetiert, ich habe gelebt, ich
habe wirklich gelebt.» (Giovanni Segantini)

Eines muss man dem Film lassen: Er animiert einem dazu, selber zu rechercherieren. Wo zum Beispiel ist Arco, Segantinis Geburtsort? Arco liegt im Trentino, am nördlichen Ende des Gardasees. Oder was wurde aus seiner Frau Bice? Bice blieb im Oberengadin und starb 1938 in St. Moritz, fast 39 Jahre nach dem Tod ihres geliebten Manns. Oder: Was passierte mit den letzten Bildern, die Segantini für die Pariser Weltausstellung von 1900 in Arbeit hatte? Wikipedia hilft: Vom obigen Gemäldezyklus „Werden — Sein — Vergehen“ war das erste fertig, am zweiten hatte Segantini gearbeitet, als er auf dem Schafberg von einer Blinddarmentzündung dahingerafft wurde, und das dritte blieb unvollendet. Ursprünglich wollte Segantini für die Pariser Weltausstellung ein Panorama des Engadins realisieren, konnte diesen Plan aber nicht finanzieren. Auch das redimensionierte Projekt blieb ein Fragment — und die drei mehr oder weniger fertigen Bilder schafften es nicht nach Paris. Sie wurden aber 1901 an der «IX. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs» in der Wiener Secession gezeigt. Heute bilden sie als Alpentriptychon das Kernstück der Ausstellung im Segantini-Museum in St. Moritz.

Recherchieren bringt Erinnerungen: Auf Wikipedia habe ich auch einen Hinweis auf die Installation mit dem (sprachlich fehlerhaften) Titel Voglio vedere i miei montagne*) von Joseph Beuys gefunden. Aufgrund von Bild und Beschreibung dämmerte es mir: Diese 1971 entstandene Installation, die auf Segantinis „famous last words“ Bezug nimmt, habe ich schon einmal gesehen. Die weitere Recherche ergibt: Das war 1990 oder 1991, an der Segantini-Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Und ich erinnere mich wieder: Damals fand ich Beuys‘ Hommage an Giovanni Segantini recht witzig.

Joseph Beuys: Voglio vedere i miei montagne, Installation, 1971

Joseph Beuys: Voglio vedere i miei montagne, Installation, 1971

Während Segantinis Bilder direkt zum Betrachter, zur Betrachterin sprechen, erschliesst sich das von Beuys geschaffene „Environment“ vor allem über den Kopf, denn der alte Beuys hatte sich bei diesem „Bilderrätsel“ viel gedacht. Wie viel er sich dabei gedacht haben muss, machte mir erst das Text-Portrait von Ralph Ueltzhoeffer klar: „Die Realität des gewohnt Sichtbaren eines Interieurs setzt Beuys in seinem Environment einer allegorischen Entfremdung aus, um die Teilhabe an einem verdeckt geistigen Gehalt sichtbar zu machen. Am Schnittpunkt haptischer Dingwirklichkeit, den Trägern der Aufschriften und des zu Imaginierenden, kommt dem Betrachter zunächst eine Mittlerrolle zu. Dem Umfang seiner individuellen Vorstellungskraft obliegt es, das Versöhnungswerk zwischen Theorie und Praxis zu leisten.“ Auch wenn das jetzt aus dem Zusammenhang gerissen ist, hilft der Kopf nur wenig, „denn Vernunft begreift Beuys als kontraintuitiv“, schreibt Ueltzhoeffer weiter. Auf ganzen neun Seiten handelt er sehr luzide Beuys‘ Bezüge zu Segantini ab, erklärt den verdeckten geistigen Gehalt des Environments und verortet das Werk in der Gedankenwelt von Joseph Beuys — also ich hätte nicht gedacht, dass man zu so einer Installation so viel denken kann.

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*) Das 1971 entstandene Environment „Voglio vedere i miei montagne“ von Joseph Beuys (1921 – 1986) ist seit 1973 im Besitz des Van Abbemuseums im niederländischen Eindhoven.