Das ist wieder einmal typisch: Da bringt das Luzerner Theater als etabliertes Theater ein selten gespieltes Stück auf die Bühne und behauptet einfach mal, es handle sich um eine Schweizer Erstaufführung. Falsch! „Worte Gottes“ von Ramón del Valle-Inclán wurde schon 1995 von der freien Theatergruppe „Il Soggetto“ aufgeführt. Premiere war im Tellspielhaus Altdorf. Aber was zählt schon eine Erstaufführung aus der freien Szene und dann noch im letzten Jahrtausend!

In der damaligen, sehr eindrücklichen Inszenierung von Franziska Kohlund spielte die legendäre Schauspielerin Margrit Winter (1917 – 2001), die übrigens bei den Luzerner Spielleuten ihre Theaterkarriere startete, eine Hauptrolle. Ein kurzer Blick ins Schweizer Theaterlexikon auf dem Internet hätte genügt, um den falschen Claim „Schweizer Erstaufführung“ zu verhindern. Wenn man die Vorschau in der Märznummer des Luzerner Kulturmagazins 041 (S. 38f.) liest, könnte man sogar vermuten, der Etikettenschwindel sei absichtlich passiert, heisst es doch da: „Als erstes Schweizer Stadttheater bringt das Luzerner Theater «Worte Gottes» auf die Bühne.“ Ob ignorant oder arrogant — das Luzerner Theater schmückt sich mit fremden Federn — mit denjenigen der freien Szene.

„Worte Gottes“ vom Luzerner Theater — vierminütiger Bericht von art-tv.ch

In einer Chropfleerete in der Luzerner Zeitung vom 30.3.2012 schreibt eine Leserbriefschreiberin, es bleibe ihr unverständlich, warum das Luzerner Theater «Worte Gottes» inszeniere, denn «Worte Gottes» sei derb und vulgär und der Respekt vor behinderten Personen gehe verloren. Obwohl ich die Luzerner Inszenierung noch nicht gesehen habe, weiss ich: Sie hat recht, das Stück ist derb und vulgär. Allerdings liegt das nicht an der Inszenierung von Andreas Hermann, sondern an der Geschichte, die Ramón del Valle-Inclán erzählt, die schockierend und verstörend ist. Sie handelt von der „erdig trüben, barfüssigen Schattengestalt“ Juana del Reina, die ihren Sohn, einen wasserköpfigen Zwerg, auf Jahrmärkten zur Schau stellt. Als die Mutter stirbt, bricht ein Erbstreit um den lukrativen Krüppel aus, der schliesslich elendiglich krepiert, weil man ihm zu viel Schnaps eingeflösst hat usw. — wahrlich ein unappetitliches Sittenbild, aber noch kein Grund, sich „von solcher Kultur zu verabschieden“, zu einem Rundumschlag gegen das Luzerner Theater auszuholen und zum Verzicht auf einen Theaterneubau aufzurufen, wie das besagte Leserbriefschreiberin tut.