Über Kunst im öffentlichen Raum wurde in Zürich schon immer gestritten — und nicht nur über den Hafenkran oder das Nagelhaus, sondern auch über die richtige Darstellung der Arbeiterklasse.
Der Bildhauer Karl Geiser (1898 – 1957) leidet unter grauenhaften Selbstzweifeln. Der Abgabetermin für den Wettbewerb um ein Denkmal „Ehrung der Arbeit“, das auf dem Helvetiaplatz in Zürich-Aussersihl aufgestellt werden soll, ist bereits verstrichen, als drei Freunde und Bekannte das Gipsmodell in seinem Atelier behändigen und verspätet abliefern. Als Geiser Mitte 1952 den Wettbewerb gewinnt, ist er überglücklich. Doch danach arbeitet er an anderen Projekten und vertröstet die Stadt auf später. 1957 wird er tot in seinem Atelier aufgefunden, wahrscheinlich hat er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Nach langem Hin und Her lässt die Stadt Zürich Geisers Gipsfiguren mit einem Pantographen im Verhältnis 1 zu 3 vergrössern, in Bronze giessen und 1964 vor dem Volkhaus in Zürich-Aussersihl aufstellen.
Längst nicht alle sind glücklich mit Geisers Darstellung der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften vermissen das Pathos, die Grösse und die Kraft der Gestalten. Der Schweizerische Bau- und Holzarbeiter-Verband (heute Teil der Unia) stellt 90’000 Franken für ein gigantisches Gegenprojekt bereit: Der Bildhauer Werner F. Kunz soll heimlich einen fesselsprengenden Arbeiter in monumentaler Höhe aufbauen, der fertig gegossen der Stadt Zürich geschenkt werden soll. Doch der Stadtrat bekommt Wind von diesem Vorhaben — und die pathetische Plastik verschwindet für einige Zeit im Depot der Stadt, bis sie schliesslich 1962 auf dem Werdplatz vor dem damaligen Restaurant Cooperativo aufgestellt wird.
Auch als die beiden konkurrierenden Arbeiterdenkmäler bereits stehen, gehen die Kontroversen weiter: Bei Geisers Figurengruppe wirft das „Magazin“ 1975 die Frage auf, ob es sich nicht eher um ein Denkmal des Arbeitsfriedens handle als um eines der Arbeit. Dass es Arbeiter seien, sei zu wenig gut erkennbar, es könne sich auch um eine Familie auf dem Weg zur Migros handeln. Die Figur vor dem „Coopi“ andererseits wird despektierlich als „Stachanow“ oder „Kraftprotz“ tituliert. In den 90er Jahren bringen radikale Feministinnen mehrmals Verzierungen an dem „Kerl“ an, den sie als Ärgernis empfinden.
Anzumerken bleibt noch, dass die Grossbronze von Werner F. Kunz ursprünglich gar nicht als Arbeiter gedacht war. Sie sollte das marode Patriotendenkmal in Stäfa ersetzen. Dieses Denkmal erinnert an die Freiheitskämpfer im Stäfner Handel von 1795, die sich gegen die Bevormundung durch die Stadt Zürich wehrten.
2. Dezember 2015 um 17:30 Uhr
Erstaunlich, was die Zunft der Schreiber und der Kunstsachverständigen alles „weiss“ und zum Besten gibt, und wie sie voneinander unkritisch abkupfern! Dies schreibt ein Sohn des Künstlers Werner F. Kunz, der die Entstehungsgeschichte dieser Statue bis hin zum Geschenk an die Stadt Zürich und die Einweihungsfeier persönlich miterlebt hat. Nüt für unguet!
31. Juli 2019 um 2:11 Uhr
Auf die Gefahr hin, noch einmal unkritisch abzukupfern, zitiere ich Fritz Billeter, den langjährigen Tagi-Kunstkritiker, der in seinem Blogbeitrag Wer kennt diese Künstler noch? diese Geschichte folgendermassen darstellt:
Wie der „Prometheus“ mit dem Stäfener Handel zusammenhängt
Beflügelt von der Französischen Revolution hatten Stäfner Handwerker, Unternehmer und Freiberufliche eine Bittschrift an die Regierung von Zürich gerichtet, in er sie ihre demokratischen Rechte einforderten. Zürich antwortete am 5. Juli 1775 mit einem Einmarsch von 2000 Soldaten; die Verfasser des Memorials wurden streng bestraft; dennoch sollte es der Stadt auf die Dauer nicht mehr gelingen , das Begehren der Zürcher Landbevölkerung nach mehr Demokratie zu unterdrücken. An dieses Ereignis erinnert bis heute der „Patriot“, eine Bronzefigur, die 1889 am Hafen von Stäfa aufgestellt worden war. Werner F. Kunz, Stäfner Bürger, fiel eines Tages der marode Zustand des „Patrioten“ auf, und er gab sich selbst den Auftrag, ein neues Denkmal zu schaffen. Allein der Gemeinderat lehnte seinen „Prometheus“ aus finanziellen Gründen ab, worauf ihn Kunz, von den Linken lautstark befürwortet, der Stadt Zürich zum Geschenk machte. Der Regierung war, wie schon dargelegt, das Geschenk nicht willkommen; auch dank dem Kalten Krieg liess es sich verhindern, es auf den Helvetiaplatz aufzustellen. Man schob den „Prometheus“ auf den Werdplatz ab, wo er sich in unmittelbarer Nähe zum Restaurant Cooperativo durchaus zu Hause fühlen durfte. Das Cooperativo war 1905 von italienischen Einwanderern gegründet worden. Hier trafen sich Arbeiter und Intellektuelle: die Diskussion um Emigrantenprobleme und um eine linke Politik liess sich mit einer guten, nahrhaften Küche verbinden.