Bevor es dunkel wird und der Film beginnt, wünscht mir die unbekannte Sitznachbarin eine schöne Reise. Recht hat sie, denn auch wir haben den Familienfilm «Hotel Sinestra» aus dem umfangreichen Programm der Solothurner Filmtage ausgewählt, weil wir den Drehort kennen und im Film nochmals in diesen hintersten Winkel des Unterengadins reisen wollten. Jeder Film nimmt einem mit auf eine Reise an einen anderen Ort und in eine andere Zeit, aber wer wie ich nach Solothurn fährt, um eine Woche lang täglich vier bis fünf Filme reinzuziehen, macht eine Weltreise — und wird merken, dass Solothurn während den Filmtagen etwas näher am Meer liegt als sonst…

Diesen Kinotrip sondergleichen habe ich nun schon zum vierten Mal unternommen. 2019 und 2020 fanden diese filmischen Reisen in Solothurn statt (vgl. Viereckige Augen), 2021 wurden die Solothurner Filmtage wegen Corona als Home Edition durchgeführt (vgl. Frauenfilmtage). Letztes Jahr haben sie wieder in Solothurn stattgefunden, aber ohne mich, weil ich nicht tagelang mit Maske im Kino sitzen wollte. Dieses Jahr jedoch habe ich mich wieder nach Solothurn aufgemacht zu einer filmischen Weltreise:

Während 7 Tagen (An- und Abreisetag habe ich als einen Tag gezählt) habe ich 29 Programmblöcke besucht: 18 Dokumentarfilme, 9 Spielfilme und 3 Blöcke mit Kurz- und Trickfilmen. Hinzu kam noch eine Miniserie mit vier Folgen, die ich mir nach den Filmtagen zu Hause auf dem Sofa angeschaut habe. Dennoch habe ich von den rund 220 Filmen, die in Solothurn gezeigt wurden, nur knapp einen Viertel gesehen — viel mehr ist aber fast nicht möglich. Von den 22 Filmen, die in den Hauptwettbewerben «Prix de Soleure», «Opera Prima» sowie «Prix du Public» liefen, habe ich immerhin 11 gesehen, habe es aber fertig gebracht, alle drei preisgekrönten Filme auszulassen. Auch meine Frauenquote war im Gegensatz zu den Frauenfilmtagen nicht herausragend: Gerade mal bei 11 von 28 Langfilmen haben Frauen Regie geführt.

Während den ersten vier Tagen war ich in Begleitung von Frau Frogg unterwegs. Sie war an der Zusammenstellung des Reiseprogramms dieser filmische Weltreise beteiligt. Schon an früheren Ausgaben der Solothurner Filmtage habe ich festgestellt, dass gewisse Themen immer wieder auftauchen und sich wie ein roter Faden das Programm ziehen — wahrscheinlich liegt’s daran, dass mich manches mehr interessiert und anderes weniger. Hier nun das thematische geordnete Reiseprogramm unserer Solothurner Weltreise:

Abkürzungen:
PdS = Prix de Soleure
PdP = Prix du Public
OP = Opera Prima
Fokus: Archivfieber
Hommages: Friedrich Kappeler
   (1949-2022)
Rencontre: Katarina Türler
   Retrospektive
Legende:
Unbedingt anschauen!
Absolut sehenswert
Solalah, durchschnittlich
Lohnt sich nicht
Ärgerlich
Keinesfalls anschauen!

 

Leben in den Bergen

60 Prozent der Schweizer Landesfläche gehören zu den Alpen — kein Wunder thematisiert das heimische Filmschaffen immer wieder das Leben in den Bergen. Durcheinandertal von Bruno Moll macht genau das: Er zeigt einerseits, wie die Theatergruppe Valendas (ein Bergdorf am Eingang des Safientals) ein Theaterstück erarbeitet, das auf Dürrenmatts letztem Roman beruht, eine klamaukige Geschichte, die in einem leerstehenden Kurhaus in einem entvölkerten Bergtal spielt. Der Film portraitiert anderseits die Laiendarsteller:innen, die teils im Safiental leben, teils übers Wochendende heimkehren, aber alle sich noch dem Tal verbunden fühlen und deshalb etwas zur Bewältigung der anstehenden Probleme beitragen wollen.

Zwei weitere Dokumentarfilme, Gion Gieri — Der Dorflehrer hört auf und Bratsch — Ein Dorf macht Schule, beschäftigen sich mit den Schulen in Bergdörfern. Während Petra Rothmund einen Dorflehrer begleitet, der nach 44 Jahren an der selben Stelle in Pension geht, regt der Film über das Schulexperiment einer Privatschule in Bratsch (VS) dazu an, Schule neu zu denken. /

Die beiden Spielfilme, die in den Bergen spielen, sind gut gemacht, haben mich trotz schönen Bildern nur mässig begeistert: Drii Winter zeigt eine starke Frau, die trotz aller Widerstände an der Liebe zu ihrem todkranken Mann festhält — berührend, doch nach 137 Minuten war ich froh, dass dieser überlange alpine Problemfilm noch ein Ende fand. Ebenfalls ein Problemfilm ist der Erstling Réduit, den die Republik als „leisen, beklemmenden Bergfilm“ angekündigte und dann gleich die Entwarnung nachschob, die Berge seien nur Schauplatz und stille Beobachter. Für mich bewegt sich dieses Vater-Sohn-Drama an der Grenze zu einem Fall für die KESB…

Frauenfilme

Gut gefallen haben mir die Spielfilme zweier Filmemacherinnen: Caterina Mona zeigt anhand ihrer Hauptfigur Semret wie eritreische Flüchtlinge in Zürich leben: mit unverarbeiteten Traumata von der Flucht, im Clinch zwischen den Ansprüchen der eritreischen Community und der schweizerischen Gesellschaft, zwischen Tradition und sozialer Öffnung. Aus eigener Anschauung zeichnet die Filmemacherin ein realistisches Bild des eritreischen Lebens in Zürich.

Sehr berührend und herzerwärmend ist der belgisch-schweizerische Feelgood-Movie Last Dance von Delphine Lehericey: Der verwitwete Germain ist kein begnadeter Tänzer, schliesst sich aber einer Tanzgruppe an, um den letzten Willen seiner Frau zu erfüllen. Er merkt bald, dass er sich beim Tanzen seiner Frau näher fühlt und wächst über sich hinaus. Um sein Vorhaben durchziehen zu können, muss er sich der Überbetreuung seiner besorgten Familie entziehen, was zu urkomischen Situationen führt und überaus lustig ist. Der Film überzeugt aber auch in den ernsthafteren Passagen durch Zwischentöne. An der Grenze zum Kitsch, aber ein Highlight.

Ganz toll fand ich vier Frauenportraits: The Mies van der Rohes ist Sabine Gisigers „Herstory“ der Frauen um den berühmten Architekten Ludwig Mies van der Rohe, der in diesem Dokumentarfilm der grosse Abwesende ist: nie da und doch ständig präsent. Aus seinem Schatten tritt vor allem Tochter Giorgia van der Rohe (1914 – 2008), deutsche Tänzerin, Schauspielerin und Filmregisseurin. Um den weiblichen Blick auf den Zweiten Weltkrieg geht es in Luzia Schmids Trained To See – Three Women And The War, der drei Kriegsberichterstatterinnen portraitiert, ihre Berichte und Fotos sowie das Filmmaterial aus Archiven sind immer noch verstörend.

Big Little Women ist der erste lange Dokumentarfilm der schweizerisch-ägyptischen Filmemacherin Nadia Fares. Dieser filmische Brief an ihren geliebten ägyptischen Vater ist der sehr persönliche Versuch, mit einem aufgeklärten Patriarchen liebevoll über feministische Kämpfe sprechen. Anhand des Portraits der ägyptischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Nawal El Saadawi (1931 – 2021), anhand ihrer eigenen Geschichte und drei jungen Ägypterinnen, die sich nichts gefallen lassen, analysiert die Filmemacherin die Auswirkungen der patriarchalen Tradition und zeichnet die Veränderungen der Stellung der Frau in Ägypten und der Schweiz nach. Ein starker und ermutigender Frauenfilm.

Beeindruckend ist auch das Filmportrait Erica Jong – Breaking The Wall von Kaspar Kasics. Die 1942 geborene New Yorker Schriftstellerin Erica Jong beflügelte mit ihrem weltweiten Erfolg «Angst vorm Fliegen» die sexuelle Befreiung der Frau. Sie wollte die Welt verändern und will es immer noch. Mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihrem Humor und mit dem Vertrauen in die Kraft der Worte. Das Footage aus diversen Talk-Show-Auftritten von Erica Jong, das aus zwei, drei Jahrzehnten stammt, zeigt, wie sich die Zeiten ändern.

Hochaktuell ist der Film A Strange Love Affair With Ego von Ester Gould, der in der «Rencontre» mit Cutterin Katharina Türler gezeigt wurde. Der 2015 entstandene Film ist ein Portrait ihrer älteren Schwester Rowan, die mit ihrer grenzenlosen Kreativität und natürlichen Schönheit alle neidisch macht. Ihr liegt die Welt zu Füssen und das Universum ist ihr Spielplatz. Doch irgendwann schlägt ihr ausgeprägtes Selbstwertgefühl in eine ungesunde Selbstüberschätzung um — Rowans dunkle Seiten kommen zum Vorschein. In diesem sehr persönlichen visuellen Essay untersucht Gould die zunehmende Obsession unserer Gesellschaft mit dem Selbst. Persönliche Entwicklung scheint das Einzige zu sein, was zählt. Mit den Social Media steigt der Druck, ein erfolgreiches Leben zu führen, sich ständig zu optimieren oder zumindest den Anschein zu erwecken, als sei alles bestens. Ein sehenswerter Film über den gesellschaftlichen Zwang zur Selbstinszenierung.

Weniger anfangen konnte ich mit Mitra Farahanis À vendredi, Robinson über einen wöchentlichen Email-Austausch zwischen Jean-Luc Godard (1930 – 2022) und Ebrahim Golestan (der im letzten Oktober 100 Jahre alt wurde) — das inszenierte Hin und Her über den Sinn oder Unsinn des Dichterdaseins war mir zu abgehoben.

Portraits

Ein roter Faden, der sich durch jedes Filmtageprogramm zieht, sind filmische Portraits über noch lebende oder bereits verstorbene Persönlichkeiten. Auch einige der oben erwähnten Dokumentarfilme gehören zu diesem Genre, etwa der Film über den Dorflehrer, der in Pension geht, die vier Frauenportraitfilme sowie Ester Goulds Filmessay über den gesellschaftlichen Zwang zur Selbstinszenierung. Eine Unterkategorie bilden die Portraits von Künstlern und Künstlerinnen, wie etwa der Film über Schriftstellerin Erica Jong.

Eine ganze Künstlerdynastie stellt die Bündner Filmemacherin Susanna Fanzun vor: I Giacometti zeigt, dass auch weltberühmte Künstler, wie Alberto Giacometti (1901 – 1966), der hauptsächlich in Paris lebte und arbeitete, aber seiner Heimat im Bergell stets verbunden blieb, nicht ohne familiäres und künstlerisches Umfeld leben und arbeiten können.

Grossartig fand ich Albert Anker. Malstunden bei Raffael von Heinz Bütler. Speziell an diesem Portrait des Schweizer Malers Albert Anker (1831 – 1910) ist, dass Persönlichkeiten aus Kultur und Kunst Ankers Wohn- und Atelierhaus durchstöbern, das in den über hundert Jahren seit Ankers Tod fast unverändert geblieben ist. Dass der inzwischen verstorbene Musiker Endo Anaconda (1955 – 2022) als Gastgeber durchs Anker-Haus führt und beim Stöbern und Sinnieren über Anker mithilft, macht aus dem Besuch in der Malstube des Schweizer Nationalmalers auch eine Hommage an Endo Anaconda.

Das Künstlerportrait über Adolf Dietrich — Kunstmaler 1877 – 1957, der zeitlebens sein Licht unter den Scheffel stellte, war ebenfalls eine Hommage: Geehrt wurde Filmemacher Friedrich Kappeler (1949 – 2022), der in den Anfängen der Filmtage in Solothurn präsent war und letztes Jahr verstorben ist.

Gut gefallen hat mir auch Alma und Oskar von Dieter Berner, ein dokumentarisch angehauchter Spielfilm über die leidenschaftliche Affäre zwischen Gustav Mahlers Witwe und Grande Dame der Wiener Gesellschaft Alma Mahler (1879 – 1964) und dem jungen Maler und Enfant terrible der Kunstszene Oskar Kokoschka (1886 – 1980). Dieses Historiendrama dreht sich um Abhängigkeit und Macht in einer Amour fou, die beide an den Rand der Selbstzerstörung bringt.

Zwei filmische Portraits drehen sich um Persönlichkeiten, die noch leben und bei der Filmpräsentation im Landhaus anwesend waren: Eine von ihnen ist Stephan von Arx, Hausarzt von Filmemacher Nino Jacusso, der Il dottore – Ein Arzt fürs Leben gedreht hat. Der Hausarzt, der in seiner Praxis in Zuchwil Patient:innen aus dem Arbeitermilieu über Generationen hinweg betreut hat, geht in Pension. Damit geht aber auch eine medizinische Institution zu Ende: Der halbe Saal sei schon bei ihm in der Praxis gewesen, sagt von Arx nach dem Film, und bekommt vom Publikum eine Standing ovation für sein lebenslanges Engagement. Für die Solothurner:innen ist diese Hommage an ihren Hausarzt ein Muss, für mich jedoch hätte Jacusso seinen Dottore auch mal kritisch hinterfragen können.

Schon immer wollte ich wissen, wie es dazu kam, dass mein Lieblingsreporter beim Schweizer Fernsehen zwar einen holländischen Namen trägt, aber bis zu seiner Pensionierung aus Athen berichtet hat. Werner van Gent – Leben zwischen Krieg und Musik gibt Antwort auf diese Fragen, erklärt aber auch, warum Werner van Gent Kriegsberichterstatter wider Willen wurde und warum er die Musik braucht, um die erlebten Kriegsgräuel psychisch verarbeiten zu können. Seine Frau und Journalistin Amalia van Gent hat nicht nur im Leben von Werner van Gent eine zentrale Rolle, sondern auch in diesem Portrait, so dass es sich eigentlich um ein Doppelportrait handelt…

Vergangenheitsbewältigung

Um die konkrete Bewältigung kriegerischer Vergangenheit geht es in den Dokumentarfilmen The Deminers von Michael Urs Reber und The DNA of Dignity von Jan Baumgartner sowie im Spielfilm The Land Within von Fisnik Maxville. Reichlich schräg ist die Geschichte der Minenräumer aus Simbabwe, die auf den windigen und frostig-kalten Falklandinseln verminte Strände wieder zugänglich machen und mit ihrem gefährlichen Job ihren Familien im fernen und warmen Afrika ein besseres Leben ermöglichen. Schier unerträglich ist die Geschichte im Hintergrund der forensischen Anthropologinnen und Archäologen, die sterbliche Überreste aus den Massengräbern der Balkankriege zu identifizieren und den Getöteten ihre Würde zurückzugeben versuchen. Zu hoffen ist, dass die Massenmörder bald zur Rechenschaft gezogen werden können. In der selben Weltgegend spielt der Mystery-Thriller von Fisnik Maxville. Nach seiner Rückkehr in den Kosovo soll Remo seiner Cousine Una bei der Exhumierung eines Massengrabes helfen, in dem die meisten ihrer Familienmitglieder begraben wurden. Doch mit den Leichen werden auch Familiengeheimnisse ausgegraben, die mit dem Krieg wenig zu tun haben, aber Remo und Una dazu zwingen, ihre Zukunft von Grund auf neu zu denken. Ein Film in kalten Farben über mögliche Wahrheiten an einem unwirtlichen Ort mit einer grausamen Vergangenheit.

Recht spannend ist vierteilige Dokumentarfilmserie La fraternité von Pierre Morath und Eric Lemasson (die in Solothurn uraufgeführt wurde, die ich mir aber zu Hause auf dem Sofa angeschaut habe): Die Bruderschaft – Die Geheimnisse der Sonnentempler (Streaming auf Play Suisse) ermöglicht mit Zeugenaussagen und bisher unveröffentlichtem Archivmaterial einen neuen Blick auf eine Tragödie, die Ende der Neunzigerjahre die Schweiz erschütterte und 74 Menschen das Leben kostete.

Hervorragend fand ich den Dokumentarfilm This Kind of Hope von Pawel Siczek, ein Portrait von Andrei Sannikov, der in den 1990er Jahren massgeblich an der nuklearen Abrüstung Weissrusslands beteiligt war. Unter Diktator Lukaschenko quittiert er den Staatsdienst und beginnt den langen Kampf für ein demokratisches Belarus, der seine Weggefährten das Leben kostet und ihn selber zeitweise ins Gefängnis bringt. Heute, im polnischen Exil, führt er seinen Kampf als staatenloser Diplomat unermüdlich weiter. Dieser Film macht die jüngste Geschichte von Belarus nachvollziehbar — eine Geschichtslektion für die Gegenwart.

Gut gefallen hat mir der Spielfilm Le voyage à Eilat von Yona Rozenkier, ein Roadmovie mit dem Traktor durch ganz Israel. Im Gegensatz zum leisen und beklemmenden Vater-Sohn-Drama Réduit ist diese Aufarbeitung der Familiengeschichte und der schwierigen Beziehung zwischen Vater Albert und Sohn Ben eher laut und etwas klamaukig: Bei maximal 35 km/h lernen sich Vater und Sohn endlich kennen und lieben. Manchmal etwas dick aufgetragen, dennoch

A Forgotten Man

Szene aus dem Spielfilm «A Forgotten Man» von Laurent Nègre (2022 | fic | 95 min | PdP)

Um Vergangenheitsbewältigung im Sinn von Geschichtsinterpretation geht es im Spielfilm A Forgotten Man von Laurent Nègre. Beim vergessenen Mann handelt es sich um Hans Frölicher (1887 – 1961), der während des Zweiten Weltkriegs Schweizer Gesandter in Berlin war, 1945 abberufen und beruflich aufs Abstellgeleise geschoben wurde. Im Spielfilm heisst er Heinrich Zwygart. Der Film zeigt seine Heimkehr und eine mögliche Version dessen, was sich dann zu Hause in Bern abspielte. Historisch gesichert ist nur wenig, dass er aber gegen das Vergessenwerden und für die Anerkennung seiner diplomatischen Leistungen kämpfen musste, ist höchstwahrscheinlich. Möglich ist auch, dass Frölicher von Gewissensbissen geplagt wurde, weil er den Schweizer Hitlerattentäter Maurice Bavaud (1916 – 1941) im Stich gelassen und dessen Attentatspläne als verabscheuungswürdig verurteilt hatte, eher unwahrscheinlich hingegen, dass er wie Zwygart in Tagträumen von Bavaud verfolgt wurde.

«Der Gesandte» von Thomas Hürlimann im Kulturzentrum Boa (Theaterplakat von 1998)

Inspiriert wurde der Film von Thomas Hürlimanns Theaterstück «Der Gesandte», das 1991 im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde. 1998 habe ich im Kulturzentrum Boa, wo ich für Theater und Tanz zuständig war, fünf Aufführungen dieses Stücks veranstaltet — gegen 600 Personen haben die Inszenierung von Livio Andreina gesehen. Obwohl es lange her ist, erinnere ich mich an das ambivalente Gefühl, das «Der Gesandte» von Hürlimann auslöste: Einerseits passte die Theateraufführung zur damaligen Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Schweizer Armee von all den Gründen, die Nazideutschland davon abhielten, die Schweiz militärisch zu unterwerfen, nur geringe Bedeutung hatte. Viel nützlicher für Hitler war eine intakte, kooperierende Schweiz, die als Transitland, als Waffenlieferantin, als Raubgoldwäscherin, als Devisenhändlerin, als Spionagedrehscheibe etc. dienen konnte. Frölicher in Berlin war Teil dieser Kooperation: Er vermittelte lukrative Kriegsgeschäfte und fädelte schreckliche Deals mit den Nazis ein. Andererseits war er als Nazifreund involviert in die unselige Geschichte um den J-Stempel in den Pässen deutscher Juden und Jüdinnen, der dazu führte, dass Zehntausende an den Schweizer Grenzen abgewiesen und schliesslich im KZ ermordet wurden. Kein Wunder, dass nach dem Krieg niemand mehr mit Frölicher / Zwygart zu tun haben wollte. Dasselbe ambivalente Gefühl zwischen Anerkennung für seine diplomatische Gratwanderung und Verurteilung seiner servilen, nazifreundlichen Haltung stellt sich nach A Forgotten Man auch wieder ein — und ist für mich ein Déjà-vu, aber dennoch sehenswert.

Specials

Fünf Filmblöcke lassen sich nicht in die bisherigen Schubladen versorgen: Ein filmisches Portrait nicht einer Persönlichkeit, sondern einer Stadt ist Helsinki, Forever von Peter van Bagh. Der finnische Regisseur, Filmarchivar und Stadtliebhaber hat mit unterschiedlichsten Filmausschnitten aus Dokumentar- und Spielfilmen sowie zusätzlichen Archivbildern eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt Helsinki geschaffen. Dieses tolle Filmessay, das im Fokus Archivfieber gezeigt wurde, ist eine wahre Stadtsinfonie, zugleich eine Geschichte von Helsinki und Finnland sowie eine Geschichte des finnischen Kinos, die wohl Finnlandkenner:innen und Liebhaber:innen des finnischen Films noch mehr Freude bereitet als mir.

Bereits erwähnt habe ich den fantasievollen, leicht gruseligen Familienfilm Hotel Sinestra von Michiel ten Horn, den wir aus Feriennostalgie in unser Filmprogramm aufgenommen haben. Er gehört nicht zu den Filmen, die wir uns sonst ansehen, ist aber durchaus sehenswert.

Vom Kurzfilmblock Architekturen habe ich mir mehr versprochen. Die drei Kurzfilme über den Umgang mit gebauter Umwelt, die ihren ursprünglichen Zweck erfüllt hat, sind mir zu essayistisch.

Den Kurzfilmblock Talents 3: Animalities mit Filmen von Newcomer:innen haben wir wegen Ours von Morgane Frund gebucht. Der letztes Jahr an der HSLU entstandene Debutfilm (2022 | doc | 19 min) basiert auf dem Material eines Amateurfilmers aus unserer Region, der über Jahre Bären gefilmt hat. Als die Filmstudentin, die sein Material digitalisiert, ihn damit konfrontiert, dass auf seinen Bändern auch russische Frauen zu sehen sind, entspinnt sich eine Auseinandersetzung um die Macht des Blicks und seiner voyeuristischen Gewalt. Ein aussergewöhnlicher Film auch über Bären, aber vor allem über den männlichen Blick.

Und last but not least: Immer wieder sehenswert sind die Animationsfilme, die für den Trickfilmwettbewerb an den Solothurner Filmtagen extra zusammengestellt werden. Nicht alle überzeugen, aber fantasievoll und einfallsreich sind alle. bis

Fazit

Eine abwechslungsreiche Reise durch die Schweizer Filmwelt mit vielen tollen Filmen und einer schönen Zeit an Bord des Kreuz(fahrtschiffs) Solothurn, das einem Filmreisenden wie mir eine hervorragende Basis bietet — danke, liebe Kreuz-Crew!

Auch wenn die Solothurner Filmtage bisweilen etwas hektisch werden, sind sie für mich auch ein Stück Heimat, wo ich alte Bekannte antreffe und mit Freund:innen aus meiner Solothurner Zeit wieder einmal ausgiebig tratschen kann.

Das Festivalzentrum der Solothurner Filmtage
auf der Kulturflaneur-Karte