Letzthin war ich im Tessin an einer Umarell-Feier. Umarell? Noch nie gehört. Also ein Umarell (vom bolognesischen Umarèl / Plural Umarì für italienisch Omarello = Männchen) ist ein Mann im Rentenalter, der dem Treiben auf Baustellen zuschaut und allenfalls kommentiert. Kann gut sein, dass sich die Bedeutung von Umarell allmählich auf alle männlichen Rentner ausdehnt. Im Tessin, wo die Pensionierung ausgiebiger gefeiert wird als in der Deutschschweiz, gibt es an der Party für den frisch Pensionierten nicht nur Ballone, die zur Pensionierung beglückwünschen, sondern auch Umarell-Equipment, Umarell-Figuren und sogar ein Brettspiel La giornata dell’Umarell. Seit kurzem bin auch ich nicht mehr Frührentner, sondern ganz offiziell ein Umarell.

Diese sprachliche Neuschöpfung, die 2005 vom Blogger Danilo Masotti in Umlauf gebracht wurde, hat sich schnell verbreitet. Analog zum Flaneur, Voyeur und Wutbürger, zum Yuppie, Nimby oder Nerd hat sich der Umarell rasch zur Sozialfigur entwickelt, einem gesellschaftlichen Idealtyp, der über sein angestammtes Feld hinaus Bedeutung erlangt. Der Umarell gesellt sich zu den Sozialfiguren der Gegenwart — zu den Diven, Hacker, Spekulanten.

Die Bildersuche auf Google liefert Umarell-Bilder en masse: Alte Männer, die Baustellen begutachten und kommentieren, Umarell-Figuren, Umarell-Equipment etc.. Auf Instagram sind es schon über 28’000 Beiträge mit Hashtag Umarell.

Ob es auch weibliche Umarells gäbe, habe ich an der Pensionierungsfeier im Tessin gefragt. „Nein, für das stundenlange Beobachten einer Baustelle oder ähnlich unnütze Tätigkeiten haben Frauen keine Zeit,“ versicherten mir die Frauen der fröhlichen Runde einhellig. Ich allerdings erinnere mich an ein sonntägliches Gespräch zwischen zwei Rentnerinnen, das ich vor bald fünfzig Jahren in einem Café beim Bahnhof Zürich-Stadelhofen mitbekommen habe: „Gömmer go Tramfahre? Nämmer de 2er oder de 11er?“ Den beiden war’s offenbar langweilig und wahrscheinlich machten sie nicht zum ersten Mal eine Stadtrundfahrt mit dem Tram. Damals war ich schockiert, heute unternehme ich hin und wieder selber ein Rentnerreisli — allerdings keine Bus- oder Tramfahrten bis zur Endstation und wieder zurück…

Ein Pendant zum Umarell existiert im Deutschen und im Schweizerdeutschen nicht, obwohl es auch hierzulande Baustellenwände mit Aussparungen gibt, die es den hiesigen Umarells erlaubt, die Fortschritte auf der Baustelle zu beobachten. Gaffer und Ginöffel sind halbwegs adäquate Übersetzungen, wobei sich das Gaffen nicht auf Baustellen beschränkt und negativer konnotiert ist als das Zuschauen und Kommentieren des Umarells. Ginöffle ist ein Verb aus dem Luzerner Hinterland und bezeichnet die Tätigkeit einer übertrieben neugierigen Wundernase.

Mit dem Eintritt ins Rentenalter darf ich mich jetzt offiziell Umarell nennen, allerdings ist meine Umarell-Phase schon vorbei: Als wir vor vier Jahren eingezogen sind, war unser dreieckiger Innenhof noch eine Baustelle, und dann konnte ich als Umarell den Abriss und den Neubau der Häuserzeile auf der anderen Strassenseite beobachten und kommentieren…

Meine Baustelle

Meine Umarell-Baustelle

Direkt vor unserer Nase wurden die Häuser an der Claridenstrasse 1 – 6 abgebrochen — sie mussten Platz machen für die 2. Bauetappe der abl-Siedlung Himmelrich3, die inzwischen fertiggestellt und bezogen ist. Meine Blogeinträge zum spektakulären Abbruch und zur Bauerei (grösstenteils auf hi3.lu erschienen) spiegeln meine Umarell-Tätigkeit:

Etwas wehmütig schaue ich auf den kümmerlichen Rest der grossen Baustelle, die ich in den letzten Jahren als Umarell beobachtet und kommentiert habe.

Meine Umarell-Baustelle
auf der Kulturflaneur-Karte