Max Frisch hat sich auch mit Wilhelm Tell auseinandergesetzt: In «Wilhelm Tell für die Schule» erzählt Frisch die Geschichte des Wilhelm Tell aus der Sicht Gesslers. Mit seiner nüchternen, fast alltäglichen Darstellung demontiert er unseren Nationalmythos derart, dass er 1971 einen Skandal auslöste. Walter Sigi Arnold und Beat Föllmi haben «Frisch’s Tell» adaptiert und vorgestern auf die Bühne des Kleintheaters gebracht. Die szenisch-musikalische Lesung hat mir gut gefallen.
Wilhelm Tell für die Schule
Als ich in meinem ersten Beitrag zum Weg der Schweiz zum Stichwort Wilhelm Tell schrieb, hätte ich unbedingt auch den 1971 bei Suhrkamp erschienenen Text von Max Frisch aufgreifen sollen, der die Geschichte des Wilhelm Tell aus der Sicht Gesslers erzählt. Gemäss Wikipedia werden Wilhelm Tell und die Urner als sehr konservativ, allem Fremden und Neuen abhold dargestellt. Der Apfelschuss, der in Frischs Version nicht stattfand, und der Tod Gesslers sind dann auch nur die direkten Folgen von Missverständnissen, Dickköpfigkeit und Stolz.
1971 schrieb Adolf Muschg im Spiegel unter dem Titel Apfelschuß war nicht verlangt: „Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» weht das Stück ohne viel Wind wieder in jene „historischen Elemente“ auseinander, die in der Schweiz reeller fortleben als ihre Schillersche Edelsynthese.“ Frischs nüchterne, beinahe satirische Demontage unseres Nationalmythos‘ war vor 50 Jahren ein Skandal. Seither gilt er vor allem in der Innerschweiz als Nestbeschmutzer — dabei hat er die Tell-Story nur so erzählt, wie sie genau so gut hätte stattfinden können und wie sie mit gesundem Menschenverstand hätte ablaufen müssen. Aber natürlich hatte Frischs alltägliche, fast schon banale Darstellung der Tell-Geschichte keine Chance gegen Schillers Heldenepos.
Im Rahmen meiner Vierwaldstätterseeumwanderung habe ich mich wieder mit unserem Nationalmythos auseinandergesetzt. Und ich finde, Schiller hat der Urschweiz eine Legende verpasst, die zwar toll daherkommt, ihr aber nicht immer gut tut. Da ist es geradezu wohltuend, wie Frisch diese alten Geschichten nüchtern auseinander nimmt und den Tyrannenmord auf einen simplen Mord reduziert.
Frischs Tell für die Bühne
Der Urner Schauspieler Walter Sigi Arnold hat nun Frischs entheroisierende Version der Tell-Geschichte bearbeitet und zusammen mit Musiker Beat Föllmi und Regisseur Peter Fischli für die Bühne adaptiert: «Frisch’s Tell – wie es wirklich war» wurde am 16. und 17. Mai 2019 im Kleintheater Luzern gezeigt und wird in der Deutschschweiz sicher noch einige Male zu sehen sein.
Die Bühne des Kleintheaters ist sozusagen zweigeteilt: links ein karges Bühnenbild, bestehend aus Tisch und Stuhl für den Erzähler Sigi Arnold und einem Garderobenständer für einige Requisiten, wie z.B. ein Wildheuerhemd und Tells Armbrust, die in dieser Geschichte unabdingbar ist, rechts eine üppige Klanginstallation, eine Art Schlagzeug mit vielen weiteren Instrumenten und tönenden Objekten. Sigi Arnold liest Max Frischs satirischen Text, unterbricht aber immer wieder, um das aktuelle Geschehen als Stammtischler mit träfem Urner Dialekt zu kommentieren oder in die Rolle des Tells zu schlüpfen, der den Papierhut auf dem Garderobenständer partout nicht grüssen will. Live produziert Beat Föllmi mit seinen ausgefallenen Instrumenten, Klangobjekten und tönenden Gegenständen eine Tonspur und eine Geräuschkulisse, die zu den verschiedenen Szenen und Spielorten passt. Zu hören ist unter anderem: Pferdegetrappel von Gesslers Gaul, Wellenschlag auf dem Urnersee, Baulärm vom Turmbau zu Silenen, Kuhgeläut auf der Alp, Windgeräusche des Föhns…
So erweitert das Bühnenduo Arnold/Föllmi Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» zu einer tönenden Collage mit einigen szenischen Elementen und aktuellen Kommentaren, die den Bogen von 1291 über Schiller und Frisch hinaus bis ins Heute spannen. Durch die neue Betrachtung von «Frisch’s Tell» wird die kluge, witzige und überraschende Sicht von Max Frisch auf den Tell-Mythos aktualisiert und sinnlich erfahrbar. Wenn alte Geschichten und Mythen in der gegenwärtigen Diskussion um nationale Identitäten wieder mehr Macht entfalten, wird eine frische und attraktive Alternativ-Version wie «Frisch’s Tell» schnell einmal zur entstaubten und leicht subversiven Gegenposition, die mir gut gefallen hat und vom Kleintheaterpublikum viel Applaus bekam.
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