Vom Tessin ist’s nicht so weit an die EXPO in Milano. Wie ein Rentnerehepaar bestellten wir die Tickets beim Carunternehmen und liessen uns hinchauffieren. Auf dem riesigen Gelände mussten wir uns zuerst orientieren, doch schwierig war’s nicht, denn die EXPO ist wie ein römisches Heereslager organisiert: Das Gelände hat eine Hauptachse (Decumano) und eine Querachse (Cardo). Ein paar wenige Pavillons wollten wir unbedingt sehen — und sonst liessen wir uns treiben und überraschen.
Das Car-Reisli
Wir schnöden ja immer ein bisschen über die „Kaffeefahrten“, aber so eine organisierte Reise mit einem Busunternehmen hat auch seine Vorteile: Man muss sich um nichts kümmern, nur früh genug aufstehen, damit man die Abfahrt in Locarno nicht verpasst, und genügend Cash dabei haben, damit man beim Einstieg die Rechnung begleichen kann. Als die Reisebegleiterin unterwegs die notwendigen Informationen nur auf deutsch durchgab, ging ein Murren durch die fröhliche Gästeschar — die TessinerInnen fühlten sich zu Recht kolonialisiert. Die Stimmung besserte sich erst, als uns der Chauffeur auch auf italienisch begrüsste. Zuerst ging’s nur schleppend voran, weil der Bus fast in jedem Dorf bis nach Bellinzona noch weitere Gäste aufnahm. Doch dann fuhren wir zügig nach Rho an die EXPO. Auf dem riesigen Parkplatz angekommen, merkten wir uns den Standort des Reisecars, damit wir ihn abends wieder finden. Doch wir waren mit unserer Angst, dass der Bus ohne uns abfährt, nicht allein. Als wir zehn Minuten vor Abfahrtszeit in den Bus stiegen, merkten wir, dass wir fast die Letzten waren. Schliesslich fuhr der Bus fünf Minuten zu früh ab, weil niemand mehr fehlte…
Hat’s genug für alle?
Der Schweizer EXPO-Beitrag hat schon lange vor der Eröffnung der Weltausstellung Diskussionen ausgelöst. Deshalb war der Schweizer Pavillon ein Muss. Auch weil es uns Wunder nahm, wie sich die Schweiz tatsächlich darstellt:
Das Herzstück von «Confooderatio Helvetica» sind vier Silotürme, die zu Beginn der EXPO mit Wasserbechern, Salz, Kaffee und Apfelringen aufgefüllt wurden. Jeder Besucher, jede Besucherin darf sich bedienen: Es hat, so lang’s hat. Am beliebtesten sind die getrockneten Apfelringe und die Wasserbecher, die an den Brunnen des weitläufigen EXPO-Geländes sehr nützlich sind. Die Botschaft ist klar und simpel: Die BesucherInnen sollen über die eigene Verantwortung, die Verteilungsgerechtigkeit von Nahrung und die Nachhaltigkeit nachdenken. Das Personal informierte uns, dass die Apfelringvorräte noch 12 Tage reichen, wenn alle ein Päckchen nehmen, und noch 24 Tage, wenn sich alle zu zweit ein Päckchen teilen. Ein bisschen zeigefingermässig, aber bei uns funktionierte es: Wie teilten uns die „Öpfelringli“, die alle ein Loch haben, als hätte Tell persönlich sie durchgeschossen.
Als ein Leser der Luzerner Zeitung zwei, drei Wochen später nach zweistündigem Anstehen vor leeren Gestellen stand, war er derart frustriert, dass er der Zeitung eine „Chropfleerete“ schickte. Keine einzige Halbliterflasche Mineralwasser sei noch vorrätig gewesen, beklagt er sich und schreibt weiter: „Alle Besucher der verbleibenden drei Ausstellungsmonate werden einen leeren Raum voller leerer Gestelle sehen! Ich frage mich, welches Image die Schweiz mit ihren leeren Regalen in die Welt hinausträgt.“ Doch der LZ-Leser irrt sich mehrfach: Da standen keine Mineralwasserflaschen in den Gestellen, sondern Plastikbecher. Und: Die Besucherplattformen im Schweizer Pavillon werden periodisch abgesenkt, so dass die BesucherInnen wieder gefüllte Regale vorfinden, die sich allmählich leeren.
Die Imagefrage habe ich mir allerdings auch gestellt: Hätte die reiche Schweiz nicht mehr zur EXPO beitragen können, als den Zeigefinger aufzuhalten und zu fragen: Ce n’è per tutti? Steht es uns gut an, der Welt diese Frage zu stellen? Wir brauchen zwei- bis dreimal so viel Ressourcen, wie zur Verfügung stehen, und sind so reich, dass wir uns wahrscheinlich nie einschränken müssen. Statt zu sagen: „Haltet Euch zurück, es könnte sein, dass es nicht für alle reicht!“ würde die Schweiz gescheiter aufzeigen, wie die vorhandenen Ressourcen nachhaltiger genutzt werden könnten, so dass sie länger für alle reichen.
Machen es andere Länder besser? Mit ihrem „Bienenstock“ weisen die Briten immerhin auf ein sehr ernstes, ungelöstes Problem der Welternährung hin: Weltweit geht es den Bienen, die für die Bestäubung vieler Pflanzen sorgen, schlecht. Einen interessanten Beitrag leistet auch Belgien, das sich im Obergeschoss des Pavillons ganz traditionell mit belgischen Fritten, Bier und Schokolade präsentiert, im Untergeschoss aber aufzeigt, wie viele essbare Pflanzen überhaupt nicht genutzt werden, wie mit Insektenzucht die Produktion tierischer Proteine massiv gesteigert werden könnte und wie mit Aquaponik-Anlagen Fischzucht und Salatanbau auf zukunftsweisende Art kombiniert werden kann. Aber alles in allem muss ich mich der Kritik der Basler Tageswoche anschliessen: Eine Welternährungs-Show ohne Erkenntniswert!
2. September 2015 um 18:39 Uhr
Danke, Herr Kulturflaneur! Ich hätte das zwiespältige Gefühl, das ich beim Anblick dieses Pavillons hatte, nicht besser formulieren können!
In der gleichen Woche, in der wir an der Expo waren, kamen Flüchtlinge in hellen Scharen in Italien an. Und was machte Norman Gobbi, seiner Zeichens Regierungsrat in unserem südlichen Grenzkanton? Er verlangte lautstark und mit viel Echo im helvetischen Blätterwald, dass wir die Grenzen dichtmachen. Die Botschaft war unmissverständlich: „Wir behalten die Apfelringli lieber für uns!“
3. September 2015 um 9:19 Uhr
Danke fürs Kompliment. Ich weiss zwar auch nicht, was angesichts der aktuellen Flüchtlingskatastrophe zu tun ist, aber ich kann diese Das-Boot-ist-voll-Leier nicht mehr hören.