Mit Thomas Cook’s erster Gruppenreise in die Schweiz traf Miss Jemima 1863 von Westen her am Genfer Bahnhof Cornavin ein — wir fahren am ersten Tag unserer Konzeptferien über Bern, Lausanne und dem Lac Léman entlang und kommen von Osten her nach Genf. Und schon sind wir auf den Spuren von Miss Jemima.

Sie und ihre Reisegruppe gingen vom Bahnhof zuerst die Rue du Mont Blanc hinunter Richtung See bis zur Holy Trinity Church, wo sie — es war Sonntagmorgen — den Gottesdienst besuchten. Mit unseren Rollköfferli folgen wir Miss Jemima, nicht weil wir ebenfalls zur anglikanischen Kirche wollen, sondern weil sich unser Hotel unmittelbar nebenan befindet.

Die anglikanische Kirche in Genf, die Holy Trinity Church, wurde 1853 eingeweiht.
Und: Unser Hotel ist gleich ums Eck.

Auf dem Weg zum Hotel de la Couronne mussten Miss Jemima und ihre Reisegruppe die Mont-Blanc-Brücke überqueren, die im Jahr davor fertiggestellt und eröffnet worden war. Die damalige Brücke wurde 1903 ersetzt und 1964/65 zur heutigen Brücke verbreitert.

Heute ist die Mont-Blanc-Brücke in Genf chronisch verstopft, ist sie doch die wichtigste Verbindung zwischen dem französischen und dem schweizerischen Genferseeufer.

Ich glaube, für Miss Jemima präsentierten sich die Mont-Blanc-Brücke, die Rhone und die Rousseau-Insel wesentlich idyllischer. Sie war jedenfalls von dieser Szenerie so beeindruckt, dass sie ihren Tagebucheintrag zu Genf damit illustrierte:

Das Bild aus dem Archiv von Thomas Cook zeigt zwei Tagebuchseiten aus Miss Jemima’s Swiss Journal. Links der oben erwähnte illustrierte Eintrag zu Genf. Bild: Englischer Beitrag auf dem Newsportal der Deutschen Welle

Jardin Anglais

Auf der anderen Seite der Brücke besteigen wir das Riesenrad, das gerade im Jardin Anglais steht und uns einen ersten Überblick über die Stadt, den See, das Hafenbecken und den Fluss ermöglicht.

Dieselbe Szenerie 155 Jahre später aus anderer Perspektive: die Mont-Blanc-Brücke, die Rhone und die Rousseau-Insel vom Riesenrad im Jardin Anglais.

Von Miss Jemimas ehemaligem Hotel, dem Hotel de la Couronne, stehen nur noch der linke Flügel (Rolex) und der mittlere Teil — der rechte Flügel des Hotels musste schon im 19. Jahrhundert dem Patek-Philippe-Gebäude Platz machen.

Und schliesslich der Blick Richtung Chamonix und Mont Blanc, dem ersten grossen Ziel von Miss Jemima. Der Genfer Stadtteil Eaux-vives war damals sicher noch weniger dicht gebaut.

Vom Jardin Anglais machen wir uns auf in die Altstadt, wo Miss Jemima und ihre Reisegruppe die Kathedrale St. Pierre, die Wirkungstätte des Genfer Reformators Jean Calvin (1509-1564), besichtigte. Diccon Bewes bewegte sich ausserdem auch auf den Spuren des Genfer Schriftstellers, Philosophen und Pädagogen der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und des Genfer Bankiers und Rot-Kreuz-Gründers Henri Dunant (1828-1910), der just 1863 das Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege initialisierte.

Über die Kathedrale St. Pierre, Calvins Tempel, schreibt Miss Jemima: „ein feines, altes Gebäude, auf der Westseite leider barbarisch entstellt durch eine Maske korinthischer Säulen“.

Auch wenn die Gassen sogar am Tag etwas düster wirken (was vielleicht am Wetter lag), hat Genfs Altstadt mit ihrem spröden Charme einen ganz eigenen Reiz.

Die Place du Bourg-de-Four ist ein wunderschöner, dreieckiger Platz in der Altstadt. Ganz in der Nähe ist das Geburtshaus von Rousseau.

Plus jamais ça

Dieser schlichte Gedenkstein erinnert an die Blutnacht von Genf am 9. November 1932

Und wir haben nochmals eine andere Agenda: Wir wollen uns den Gedenkstein ansehen, der an eine unrühmliche Genfer Geschichte erinnert, die Blutnacht von Genf. Als am 9. November 1932 rund 8000 Personen aus dem linken Lager um Léon Nicole gegen eine Veranstaltung der frontistischen Union nationale um Georges Oltramare demonstrierten, kam es zu Zusammenstössen. Die Polizei rief das Militär zu Hilfe, die Situation eskalierte und Rekruten der Schweizer Armee schossen ohne Vorwarnung in die Kundgebung. Dreizehn Demonstranten wurden getötet und über sechzig schwer verletzt. Während die militärischen Befehlshaber sich nie vor Gericht verantworten mussten, wurden Hunderte Demonstranten verhaftet und verhört. Sieben Demonstranten wurden schliesslich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt von einem Strafgericht des Bundes verurteilt.

Frankie a.k.a The Creature of Doctor Frankenstein (2013-2014) —
Skulptur der Genfer Künstlergruppe KLAT (Jérôme Massard, Florian Saini, Konstantin Sgouridis)

Um einen Schlussstrich unter dieses dunkle Kapitel ziehen zu können, verlangt der Kanton Genf mit einer Standesinitiative die Aufhebung des Urteils und die Rehabilitation der sieben Verurteilten. Deshalb muss sich jetzt das Parlament in Bern mehr als achtzig Jahre später mit der Blutnacht von Genf und ihren Folgen befassen (vgl. sda-Meldung vom 14.6.2018) — dabei ist allen klar, dass die Schweizer Armee nie wieder gegen Zivilisten eingesetzt werden darf. „Plus jamais ça“ (= sowas nie wieder) steht denn auch auf dem Gedenkstein am hinteren Ende der Plaine de Plainpalais, einer grossen Freifläche mitten in Genf. Wegen einer Baustelle und wegen des WM-Trubels (Public Viewing im Plainpalais) finden wir den Gedenkstein nicht, dafür stossen wir auf Frankie, die Kreatur von Doktor Frankenstein — in Messing gegossen, erinnert Frankie an eine andere berühmte Reisende aus England: Mary Shelley, die 1816 in Coligny am Genfersee den Frankenstein erfand…

⇒ Radiosendung vom 9.5.2018 zur Blutnacht von Genf und deren Aufarbeitung:

⇒ Am Beispiel der Genfer Blutnacht zeigt Hans Stutz in einem WoZ-Artikel vom 10.1.2013, dass der Rechtsextremismus in Genf eine unrühmliche Tradition hat:
«Que vive Genève, heil dir, Helvetia!»