Diese Engadiner Geschichte reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Damals waren die Bündner und Bündnerinnen im benachbarten Ausland, insbesondere in Venetien, als Arbeitskräfte begehrt. Etliche kamen in der Fremde zu Vermögen und Ansehen, andere waren weniger erfolgreich oder wurden gar krank und starben früh. Hier wie dort finden sich Spuren dieser Emigration, aber in Sent im Unterengadin wird die Erinnerung an die Randulins (rätoromanisch für Schwalben) ganz besonders gepflegt.

Dass es etliche Senter in der Fremde zu etwas gebracht haben, zeigt sich an den vielen stattlichen Häusern, die sie — zurück in der Heimat — erbauen liessen.

Als wir 2010 in Scuol in den Ferien waren, haben wir eine kleine Wanderung ins benachbarte Sent gemacht. Das Unterengadiner Dorf hat Frau Frogg so gefallen, dass sie es kurzerhand in ihre Top 5 Engadin aufnahm. Während sie unsere damaligen Ferien mit zahlreichen, immer noch lesenswerten Einträgen (12.6. bis 17.7.2010) verblogte, hatte ich noch keinen eigenen Blog und begnügte mich damit, ihre Beiträge zu kommentieren. In ihrem Top-5-Eintrag über Sent schrieb vom geradezu kleinstädtischen Gepräge der Dorfarchitektur, die auf die Tatsache zurückzuführen sei, „dass früher viele Leute von dort in die grossen Städte Europas emigrierten und als Zuckerbäcker ordentlich Geld verdienten. Wenn sie zurückkamen, leisteten sie sich ein richtig schönes Haus.“

Von diesem „verlorenen Café“ war Frau Frogg vor zehn Jahren derart angetan, dass sie in einem Blogbeitrag versprach, es eines Tages wieder aufzusuchen. (Bild: Froggfoto)

Bei der Suche nach mehr Informationen und einem Foto zu Frau Froggs „verlorenem Café“ bin ich auf den damaligen Namen der Cafébar
gestossen: Cafè Sentiner Bar Randulina. Wie sinnig dieser Name war und wie gut er zu Froggs Zuckerbäckergeschichte passte, erschliesst sich erst aus der Geschichte um den Namen dieser Cafébar: Randulina heisst auf deutsch Schwalbe (Cool ist übrigens die Übersetzungshomepage der Lia Rumantscha: www.pledarigrond.ch). Und die Randulins sind die Nachkommen der nach Venedig emigrierten Senter Zuckerbäcker — eine Emigrationsgeschichte, die auf einer alten Bündner Connection mit Venedig basiert und 1766 eine relativ tragische Wende nahm. Nachzulesen ist die ganze Geschichte auf www.sent-online.ch.

Vereinssignet der Randulins da Sent

Die Randulins sind also die im Ausland, vor allem in Italien, lebenden Heimweh-Senter, die — wie die Schwalben — nur noch im Sommer einige Wochen in ihren von den Vorfahrern geerbten Häusern in Sent verbringen. Seit dem 14. August 2008 sind sie sogar in einem eigenen Verein organisiert, der ihre Interessen wahrnimmt, in der Società Randulins da Sent – Associazione dei Randulins Sent (www.sent-online.ch).

Die Pasticceria Sandri in Perugia war wohl die letzte Zuckerbäckerei in Italien unter Schweizer Führung. Bild: www.sent-online.ch

Emigration — Immigration

Die Cafèbar Randulina ist jetzt — was für eine Ironie der Geschichte — eine Pizzeria und heisst „Da Salvatore“. Aus einer Emigrationsgeschichte ist eine Immigrationsgeschichte geworden: Die Leute aus Sent arbeiten nicht mehr als Zuckerbäcker in Italien, sondern die ItalienerInnen servieren Pizzas in Sent. Die Schwalben fliegen jetzt in die umgekehrte Richtung. Dazu passt die Nachricht, dass die wohl letzte Pasticceria unter Schweizer Führung, die Pasticceria „Sandri“ in Perugia, nun von einem jungen Mann aus Perugia betrieben wird (vgl. Swissinfo-Artikel von 2018 über Carla Schucany). 1840 war der Urgrossvater von Carla Schucany aus dem Unterengadin ausgewandert und hatte in Perugia die Zuckerbäckerei „Sandri“ gegründet, „la piu antica pasticceria dell’ Umbria“. Sie selber, 1932 in Perugia geboren, ging während des Zweiten Weltkriegs in Sent zur Schule und anschliessend in Chur ins Gymnasium, und führte dann lange die Pasticceria „Sandri“ in vierter Generation.

Neben ihrem reich verzierten „Haus der Jäger“ liessen die Geschwister Corradini, die in Italien ein grosses Import-Exportgeschäft betrieben, 1828 einen neuklassizistischen Palazzo als Sommersitz erstellen.

Während im Ausland die Spuren der emigrierten Senter und Senterinnen allmählich verschwinden, sind sie im Dorfbild von Sent allgegenwärtig. Am augenfälligsten sind die Palazzi der Randulins, wie z.B. die Chasa da las tuors oder der Palazzo Corradini — dieser Sommersitz der Familie Corradini mit sechs herrschaftlichen Grosswohnungen war das erste reine Ferienhaus in Sent. Wer Sent besucht, sollte den sehr informativen Dorfrundgang „Sent in 60 minuts / Sent in 60 Minuten“ machen. Er beginnt im Dorfteil Sala bei der Bar Randulina / Pizzeria da Salvatore und geht über 11 Stationen: Infotafeln vermitteln allerlei Wissenswertes und interessante Geschichten über Plätze und Brunnen, Häuser und Palazzi…

Viele Randulins waren Zuckerbäcker. Peder Benderer, der in Sent eine Zuckerbäckerei in dritter Generation führt, knüpft an diese Tradition an, indem er 1999 zu Fuss von Sent nach Florenz wanderte.

Aber auch sonst sind die Senter und Senterinnen stolz auf die Randulins und ihre Leistungen. Peder Benderer zum Beispiel, der am Senter Dorfplatz eine Bäckerei-Konditorei führt, knüpft an die Tradition an und nennt seinen Betrieb Zuckerbäckerei Benderer. Selbstverständlich produziert er auch die Bündner Spezialität schlechthin: die Bündner Nusstorte. Gemäss Wikipedia liegt ihr Ursprung im Engadin. Engadiner Zuckerbäcker brachten das Rezept von Toulouse wieder zurück ins Engadin. 1999 wanderte Benderer von Sent nach Florenz und versuchte so die Senter Emigration nachzuvollziehen — noch heute verweist die Verpackung seiner Nusstorte auf diese traditionelle Fussreise…