In diesem Eintrag, den Frau Frogg in ihrem Bericht über ein wunderbares Gastmahl bei Familie Punctum bereits angekündigt hat, geht es um Meissner Eisenbahnfeindlichkeit, das Delirium furiosum und die Schnellkutschenverbindung als famose Problemlösung.
Die Vorgeschichte: Am ersten Tag unseres Besuchs bei Frau Punctum haben wir einen Ausflug nach Meissen gemacht. Als bekennende NichtautofahrerInnen sind wir auf den öffentlichen Verkehr angewiesen — in den Ferien sind wir also sozusagen als öV-Tester unterwegs und haben so schon manche Abenteuer erlebt.
Da wir die Bushaltestelle nicht auf Anhieb gefunden haben, gingen wir auf den nahen Bahnhof, der zwar noch keine Ruine war, aber angesichts uralter Bahntechnologie und fortschreitenden Zerfalls nicht gerade vertrauenserweckend wirkte. Vergeblich suchten wir einen Billetautomaten, um Fahrscheine nach Meissen zu lösen. Fragen konnten wir niemanden, weil wir weit und breit die einzigen waren. Einzig die Laufschriftanzeige liess uns hoffen, dass der Zug der DB, der im Zweistundentakt verkehrt, tatsächlich kommen würde. Um so überraschter waren wir, als eine topmoderne Dieselkomposition pünktlich auf dem grasüberwachsenen Gleis 1 einfuhr, dann in zügigem Tempo das Triebischtal runterkurvte und uns in wenigen Minuten nach Meissen-Triebischtal brachte, wo die Bahnlinie zur Zeit auf einer Baustelle endet, weil die Brücke über die Elbe erneuert wird. Die Fahrscheine konnten wir — anders als bei uns in der Schweiz — am Automaten im Zug lösen.
Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Bahnlinie von Dresden nach Leipzig, die 1839 eröffnet wurde, die erste deutsche Ferneisenbahn sei, und ich konnte mir nach unserem Eisenbahnabenteuer vom Vortag gut vorstellen, dass diese Strecke durchs Triebischtal führte. Nein, nein, versicherte mir die fröhliche Runde an der Grillparty im Garten von Familie Punctum, die älteste Fernbahnstrecke Deutschlands hätte von Dresden über Coswig und Riesa nach Leipzig geführt.
Und die Geschichtslehrerin in der Runde fügte noch an, dass die konservativen Meissner sich erfolgreich gegen die technische Neuerung gewehrt und dafür gesorgt hätten, dass Meissens Bahnhof ins benachbarte Coswig komme. Ich glaube, die Meissner hatten einfach Angst vor dem Delirium furiosum, vor dem ein um 1835 erstelltes Gutachten des „Königlich Bayrischen Medizinalkollegiums“ über die Gesundheitsrisiken des neuen Transportsystems eindringlich warnte:
„Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, ‚delirium furiosum‘ genannt, hervorzurufen. Selbst zugegeben, daß Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muß der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, um diese schreckliche Krankheit zu erzeugen. Es ist daher unumgänglich nötig, daß eine Schranke, wenigstens sechs Fuß hoch, auf beiden Seiten der Bahn errichtet werde.“ (vgl. Ein früher Fall von Technology Assessment oder die verlorene Expertise)
Ob die Bahnlinie tatsächlich wegen Meissens Eisenbahnfeindlichkeit oder wegen der höheren Kosten um Meissen herumgebaut wurde, bleibe dahingestellt. (Gemäss Wikipedia hätte die Strecke über Meissen 1’956’000 Thaler gekostet, während für die nördlichere Variante nur 1’808’500 Thaler veranschlagt wurden.) Auf jeden Fall sei für diejenigen Meissner, die auf das neue, aber gefährliche Verkehrsmittel nicht verzichten wollten, eine Schnellkutschenverbindung zum Bahnhof in Coswig eingerichtet worden — ein Ausdruck, der angesichts der massiven Verkehrsprobleme, mit denen Meissen wegen des Hochwassers zu kämpfen hatte, an unserer Grillparty ein heiteres Gelächter auslöste.
7. Juli 2013 um 8:13 Uhr
Eine Geschichte nach meinem Geschmack. Das Delirium Furiosum ist ja auch sehr poetische bei Rossegger beschrieben und hat in Österreich vor allem die Semmeringbahn betroffen, über die ja heute noch streckenweise nur mit 45km/h gefahren wird. (Ganz im Gegensatz zur klassischen Gotthard-Strecke.
Ich bin beide Strecken gefahren: die nach Meißen und die Verbindung Leipzig-Dresden. Jetzt glaube ich mich ja einigermaßen auszukennen, was deutsche Städte und ihre Lage angeht. Zumindest bei den größeren halt.
Als ich aber das erste Mal den ICE in Riesa anhalten sah, war ich doch etwas verwirrt und habe nachgefragt, was denn das Besondere an Riesa sei, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Das scheint einfach ein Kreuzungspunkt zweier ICE-Streckenverläufe zu sein. Das könnte sogar im Niemandsland sein.
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Lokomotive Blitz ist doch wunderschön!
7. Juli 2013 um 23:57 Uhr
Grandios und absolut treffend erläutert, lieber Herr Kulturflaneur! Ich staune nun im Nachhinein, wieviel ich durch die Recherche der sehr lieben Gäste selbst noch über die heimische Geschichte lernen kann. Im Übrigen: Es lebe die Schnellkutschenverbindung! 🙂
8. Juli 2013 um 22:03 Uhr
Ich lese immer „Schnellknutsch…“
9. Juli 2013 um 1:45 Uhr
REPLY:
Danke fürs Kompliment. In der Schweiz bin auch schon auf Eisenbahngegner im Delirium furiosum gestossen — deshalb interessierte mich das Thema. Ein furioser Gruss nach Meissen!
9. Juli 2013 um 1:46 Uhr
REPLY:
Schnellknutschverbindung — sehr schön!
10. Juli 2013 um 16:48 Uhr
@steppenhund – in Riesa kreuzen sich keine ICEs, aber die Bahnlinie Elsterwerda – Chemnitz kreuzt dort die Strecke Leipzig-Dresden, insofern ein wichtiger Umsteigepunkt. Und Riesa ist nun mit 35000 Einwohnern auch nicht gar so unbedeutend.
17. Oktober 2020 um 19:35 Uhr
Als wir 2013 in Meissen zu Besuch waren, endete die Bahnlinie Leipzig – Borsdorf – Döbeln – Nossen – Coswig – Dresden in Meissen-Triebischtal, weil die Brücke über die Elbe saniert wurde. Heute endet die Dresdner S-Bahn von der anderen Seite her in Meissen-Triebischtal. Gemäss eisenbahn-um-nossen.de wurde am 12. Dezember 2015 „der Personenverkehr zwischen Döbeln, Roßwein, Nossen und Meißen trotz großer Proteste aus der Bevölkerung eingestellt.“ Das Trauerspiel um Deutschlands Regionalbahnverkehr ist um ein Kapitel reicher…