„Das Volk hat immer Recht“, sagt die SVP — und die muss es ja wissen, heisst sie doch Schweizerische VOLKspartei. Diese populäre Populistenpartei ist deshalb der Meinung, es brauche in der Schweiz kein Verfassungsgericht, weil das Volk als Souverän über der Verfassung steht und in die Schweizerische Bundesverfassung schreiben kann, was es will, ausser…
… eine Verfassungsänderung widerspricht übergeordnetem Recht.
Zum Beispiel den Menschenrechten. Aber dann werden wir Eidgenossen früher oder später von den Strassburger Richtern zurückgepfiffen, denn auch wir haben die Menschenrechtskonvention unterzeichnet. In der Folge müssten wir die Verfassung und zugehörige Gesetze und Erlasse wieder ändern oder das Parlament, Behörden und Gerichte haben derart grosse Umsetzungsprobleme, so dass das, was das Volk in die Verfassung reingeschrieben hat, letztlich toter Buchstabe bleibt. So geschehen mit der Verwahrunsinitiative, die 2004 vom Volk angenommen wurde und dafür sorgt, dass extrem gefährliche Sexual- oder Gewaltstraftäter, die nicht therapierbar sind, lebenslang verwahrt werden. Das ist derart unwiderruflich und vermutlich auch nicht mit den Menschenrechten vereinbar, dass sich die Gerichte äusserst schwer tun, solche Straftäter bis an ihr Lebensende wegzusperren. Angesichts der Tatsache, dass bis jetzt nur der Callgirl-Mörder auf immer verwahrt wurde, würde uns ein Verfassungsgericht, das den Souverän daran hindert, eine kaum umsetzbare und womöglich mit den Menschenrechten nicht konforme Bestimmung in die Bundesverfassung zu schreiben, vor viel Diskussionen, Ärger und Frust bewahren.
… eine Verfassungsänderung hat Konsequenzen, die das Volk vorher nicht bedacht hat.
So geschehen am 9. Februar, als der Schweizer Souverän mit 50.3% JA die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ angenommen hat (vgl. Nicht nur die Agglo ist gekippt). Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die EU nicht von ihrem Prinzip der Personenfreizügigkeit abweichen wird und deshalb kaum uns als Nicht-Mitglied Sonderkonditionen zugesteht. Dann haben wir die Wahl zwischen Volkswille und Aufkündigung der Personenfreizügigkeit, was wahrscheinlich auch das Ende der Bilateralen Verträge zur Folge haben wird.
Aber das Volk kann ja auch gescheiter werden, wie 1978 als die Schweiz in einem Referendum die Einführung Sommerzeit ablehnte und 1980 zur Zeitinsel mitten in Europa wurde. Auch gegen den zweiten Anlauf zur Einführung der Sommerzeit wurden Unterschriften gesammelt, doch das Volk weigerte sich zu unterschreiben und die notwendigen 50’000 Unterschriften kamen nicht zusammen. So wurde 1981 die Sommerzeit doch noch eingeführt und eine Wiederholung des Zeitchaos vermieden — der Souverän ist eben doch lernfähig.
Hoffentlich gilt das auch in Bezug auf unser Verhältnis zur EU und entscheiden uns in der Frage „Kündigung der Personenfreizügigkeit oder Bilaterale Verträge?“ für die Weiterführung der Bilateralen, ohne die die beispiellose Prosperität der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten nicht möglich gewesen wäre.
… eine Verfassungsänderung widerspricht den eigenen Prinzipien.
Zum Beispiel dem Verhältnismässigkeitsprinzip. Bundesrat und Parlament tun sich schwer mit der Umsetzung der 2010 mit 52.9% JA angenommenen Ausschaffungsinititiative, die eine konsequente Ausschaffung krimineller Ausländer verlangt, was nicht in jedem Fall verhältnismässig ist, aber nicht mehr individuell beurteilt werden soll. Doch mit dem Kompromissvorschlag des Bundesrats, der halbwegs dem Verhältnismässigkeitsprinzip und Menschenrechtskonvention gerecht wird, ist die die SVP ganz und gar nicht einverstanden. Deshalb will sie mit einer 2012 eingereichten Durchsetzungsinititive dafür sorgen, dass das Volk doch noch Recht bekommt — und Paragraf 2 in Kraft tritt:
§2 Sollte das Volk einmal nicht Recht haben, tritt automatisch Paragraf 1 in Kraft.
Fazit: Nach mehreren solchen frustrierenden Übungen sollte sich der Souverän überlegen, ob er nicht vielleicht doch ein Verfassungsgericht einführen will, das darüber entscheidet, ob eine Initiative mit der bisherigen Verfassung und übergeordnetem Recht kompatibel ist — zeigt doch die Erfahrung, dass §1 nicht automatisch gilt.
PS. Diese Woche wurde bekannt, dass die SVP auch der Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ mit einer Durchsetzungsinitiative zum Durchbruch verhelfen will — und das nur vier Monate nach der Abstimmung und noch bevor der Bundesrat eine Strategie für die Verhandlungen mit Brüssel präsentiert hat. Wenn das keine Zwängerei ist!
Schreibe einen Kommentar