«Der Kluge reist im Zuge» hiess es früher in der SBB-Werbung. Das gilt heute aus ökologischen Gründen mehr denn je. Der fliegenden Bevölkerung drohen viel Stress und Ärger an den Flughäfen, der automobilen Bevölkerung lange Staus auf der Fahrt in den Süden. Wir sind unsere dreiwöchigen Ferien in Grossbritannien entspannt angegangen und mit der Bahn gereist — ein Erfahrungsbericht.

So weit kommen Sie mit dem Zug von Ihrem Wohnort aus, betitelte heute der Tages-Anzeiger einen Artikel zum Sommerferienbeginn. Das TA-Interaktiv-Team hat eine interessante Infografik erarbeitet, die aufzeigt, wie weit Bahnreisende aus der Schweiz innerhalb von 3 bis 10 Stunden reisen können. Da aber die wenigsten 10 Stunden im Zug auf sich nehmen dürften, analysiert der Tagi auch das Nachtzugangebot, das in jüngster Zeit ein Comeback gefeiert hat und sehr beliebt sei. Gemäss Tagi führen die angebotenen Verbindungen mit 12 verschiedenen Städten alle von Zürich aus nach Norden bzw. Osten und dauern zwischen 8 Stunden (Köln) und 14 Stunden (Zagreb). In diesen Schlafwagen reise man etwas länger, dafür im besten Fall auch entspannter. Die SBB werde kritisiert, weil ein Viertel der Nachtzüge Verspätung habe. Und Verbindungen Richtung Süden nach Italien oder Richtung Westen nach Frankreich und Spanien suche man vergebens. Die versprochenen Ziele Rom und Barcelona liessen auf sich warten, obschon die Nachfrage nach Nachtzügen stark zunehme.

Der interaktive Reise-Rechner der Tages-Anzeigers berechnet und demonstriert, wie weit Bahnreisende von Luzern in 3 bis 10 Stunden Zugfahrt kommen. Diese Isochronen-Karte zeigt alle Bahnhöfe, die innerhalb der entsprechenden Reisezeit mit höchstens 4-mal umsteigen erreicht werden können. Es handelt sich um reale Verbindungen, nicht jedoch um den realen Fahrplan. Zur Vereinfachung wurden z.B. durchschnittliche Umsteigezeiten von 20 Minuten eingesetzt.

Reisen in Hochgeschwindigkeit

Wir gehören zu den wenigen Unentwegten, die tagsüber eine zehnstündige Bahnreise auf uns nehmen. Unsere Reisezeit von Luzern über Basel, Paris und London nach Huntingdon betrug nicht nur gemäss Fahrplan, sondern auch tatsächlich knappe zehn Stunden — wir sind also in dieser Zeit ein rechtes Stück weitergekommen, als obige Infografik zeigt. Möglich werden solche Reisezeiten dank Hochgeschwindigkeitszügen: Der TGV in Frankreich oder der Eurostar nach London lässt bisweilen französische und südenglische Landschaften in rasendem Tempo vor den Zugfenstern vorbeiflitzen.

Allerdings sind solche Züge an Sommerwochenenden ausgebucht und deshalb unangenehm voll. Auch das Umsteigen in Paris vom Gare de Lyon mit dem RER zum Gare du Nord ist nicht ohne: Die RER-Station im Untergrund des Gare de Lyon ist schlecht angeschrieben und das Abfertigungsprozedere beim Einsteigen in den Eurostar gleicht demjenigen an einem Flughafen. Scanner lesen die Tickets, die Pässe und Gesichter der Reisewilligen und vergleichen sie mit den gespeicherten Daten. Mich wollte der Scanner partout nicht eintreten lassen, er erkannte mich erst, als ich Hut und Brille abgezogen hatte und leicht entnervt in die Kamera blickte.

Ankunft mit dem Eurostar im Londoner Bahnhof St Pancras International

Fast hätten wir es pannenfrei und fahrplanmässig nach Huntingdon geschafft, aber dann dachte das Zugspersonal des Regionalexpress der Great Northern an einer Station zwischen Kings Cross und Peterborough, es ginge nicht mehr weiter, liess alle aus- und nach ein paar Minuten wieder einsteigen, um dann doch weiterzufahren. Verständlicherweise waren wir nach so einer langen Bahnreise schon ein bisschen gerädert.

Im Mutterland der Eisenbahn

In England und Wales sind Bahnreisen abseits der grossen Hauptlinien gemächlicher. Oft sind es kurze Kompositionen mit zwei oder drei Wagen, die kreuz und quer durchs Land fahren (vgl. auch Im Zickzack nach Keswick). Die Planung von Bahnreisen ist gar nicht so einfach, weil die Bahnlinien im Vereinigten Königreich von den unterschiedlichen Privatbahnen betrieben werden — hilfreich war für mich die SBB-App, die, ohne uns Tickets verkaufen zu wollen, die besten Verbindungen heraussuchte. So fuhren wir von Huntingdon, wo wir ein befreundetes Paar besucht hatten, mit Thameslink ins nahe Peterborough, von da mit der East Midlands Railway über Sheffield nach Manchester und schliesslich mit Transport for Wales und Halt an fast allen Stationen der walisischen Küste entlang nach Llandudno, unserer ersten Feriendestination in Wales — Reisezeit: gut 6 Stunden und zweimal umsteigen.

An der Westküste von Wales: Bahnreisen ist auch Sightseeing.

Typisch ist auch folgende Geschichte: Im Zug von Porthmadog der walisischen Küste entlang nach Süden empfahl uns der Kondukteur, wir sollten nicht in Dovey Junction, sondern in Machynlleth auf den Zug nach Aberystwyth umsteigen. In Dovey Junction gäbe es absolut nichts zu sehen, da sei es langweilig, fast eine Stunde auf den Anschlusszug zu warten. Allerdings, fügte er hinzu, müssten wir dann im Zug nach Aberystwyth uns wieder mit dem selben Kondukteur abfinden — das sei nämlich wieder er. Sein Tipp war hilfreich, denn die Umsteigestation Dovey Junction liegt mitten in einem Sumpf.

Umsteigen in Machynlleth: Im Bahnhof mit dem unaussprechlichen Namen fügt Transport for Wales kurze Kompositionen aus Pwllheli und Aberystwyth zur Weiterfahrt Richtung Osten nach Birmingham Airport zusammen oder teilt Züge, die von da kommen, in zwei Kompositionen auf.

An grösseren britischen Bahnhöfen ist der Zugang zu den Perrons nur mit gültigen Tickets möglich, die auch beim Verlassen des Bahnhofs durch Schranken mit Scannern kontrolliert werden. Nur: Die QR-Codes der Britrail-Pässe auf unseren Handys funktionierten da nicht. Das britische Bahnpersonal, das die Schranken beaufsichtigt und bei Problemen (Kinderwagen, viel Gepäck etc.) hilft, kennt dieses Problem, das wohl auch alle Interrail-Reisenden betrifft, und liess uns jeweils pragmatisch durch die Schranken schlüpfen. Als wir auf der Fahrt von Aberystwyth nach Cardiff in Shrewsbury umsteigen mussten, unterbrachen wir die Reise für eine Stippvisite im charmanten englischen Städtchen, das in einer Flussschlaufe des Severn liegt. Als wir nach unserem mehr als zweistündigen Rundgang durch die Geburtsstadt von Charles Darwin mit unseren Rollköfferli wieder zurück zum Bahnhof kamen, stellten wir überrascht fest, dass die Schrankenbetreuerin uns noch kannte.

Umsteigen, Mittagessen und Kurzbesuch im englischen Städtchen Shrewsbury

Fazit

Für die langen Hin- und Rückreisen mit TGV und Eurostar via Paris würden wir allenfalls gewöhnliche Wochentage wählen, wenn diese schnellen Züge weniger voll sind. Möglicherweise würden wir über Strasbourg, Paris-Est oder Lille reisen, um die mühsame Umsteigerei in Paris mit dem RER zu vermeiden. Allerdings erhöht mehr umsteigen auch das Risiko, wegen Verspätungen die Anschlüsse zu verpassen.

Wir wären deutlich günstiger gereist, wenn wir — statt in Grossbritannien an vier frei wählbaren Tagen mit Britrail-Pässen herumzureisen (rote Strecken auf unserer Reiseroute) — zwei globale Interrail-Pässe für sieben Tage in einem Monat gekauft und frühzeitig die Sitzplätze in den TGVs und Eurostars reserviert hätten. Die Krux dabei: In den Eurostars nach London sind die Plätze für Interrail-Reisende limitiert und schnell weg. Dann bleibt nichts anderes übrig, als normale Tickets zu kaufen oder den Ärmelkanal mit der Fähre zu überqueren.

Schliesslich war es faszinierend, gut zehn Stunden nach der Abfahrt in Luzern bei unseren englischen Freunden im Wohnzimmer zu sitzen, aber beim Reisen geht es nicht nur darum, möglichst schnell anzukommen, sondern auch etwas zu erleben, denn wie heisst es so schön: Der Weg ist das Ziel.

Cyffordd Dyfi / Dovey Junction
auf der Kulturflaneur-Karte