Für die Kunstaktion «No Exit Luzern» sperrte letzten Freitag der iranische Künstler Shahram Entekhabi den Rathaussteg in Luzern mit Absperrbändern. Das Erstaunliche daran: Kaum jemand regte sich darüber auf. Ist das Kunst oder nur Provokation oder gar beides?
Die Aktion dauerte nur wenige Minuten — und jetzt prüft die Stadt eine Strafanzeige, weil die Kunstaktion nicht bewilligt war. Das heisst: Eine Provokation war es sicher, auch wenn sich nicht die Passanten, sondern nur die Behörden provozieren liessen. War es aber auch Kunst oder nur eine Werbeaktion für die Ausstellung des iranischen Künstlers in der AB Gallery in Emmenbrücke? Kunst ist ja nicht einfach das, was Künstlerinnen und Künstler machen. Und: Was macht ein Werk zu einem Kunstwerk?
Zu meinen subjektiven Kriterien gehören:
- Die Auseinandersetzung mit dem Publikum: Was im stillen Kämmerlein des Künstlers/der Künstlerin bleibt und nie den Publikumsreaktionen ausgesetzt wird, kann noch so gut sein, es ist in meinen Augen noch keine Kunst, weil die Interaktion mit dem Publikum fehlt. Fehlende Öffentlichkeit kann aber der Kunstaktion «No Exit Luzern» sicher nicht vorgeworfen werden.
- Kunst muss emotional berühren oder zumindest zum Denken anregen. «No Exit Luzern» hätte mich, wäre ich da gewesen, vor allem geärgert, weil die Absperrbänder mir im Weg gewesen wären. Aber ich hätte mich auch gefragt: Was will mir das sagen?Dieses sperrige Werk irritiert zwar, erklärt sich jedoch nicht selbst, es muss erklärt werden, was ich zumindest problematisch finde. «No Exit Luzern» lässt mich zwar nicht kalt, reisst mich aber auch nicht aus den Socken. Den PassantInnen ging es ähnlich: Sie liessen sich vom Absperrbandhindernisparcours nicht beirren.
- Schliesslich kann ein Werk auch einfach ästhetisch schön sein und als Augenweide oder Ohrenschmaus oder Gaumenfreude die Sinne erfreuen. Aber für mich ist «No Exit Luzern» bestenfalls ein Farbtupfer im winterfarbenen Stadtbild.
Fazit: «No Exit Luzern» ist beides, Provokation und Kunst, wenn auch als Werk erklärungsbedürftig.
Die Ausstellung „Rhizome“ von Shahram Entekhabi (Berlin & Tehran) in der AB Gallery in Emmenbrücke dauert noch bis 19. März 2011.
31. Januar 2011 um 15:42 Uhr
Mir gefällt das recht gut.
Mir scheint:
Der Künstler(in) wollte etwas aussagen. (Ist ihm bei mir gelungen)
Das Werk hat nicht nur Inhalt sondern auch Form.
Mich spricht es auch ästhetisch an.
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Ich würde einmal wie folgt zu formulieren versuchen: Wenn man die Verpackungen von Christo als Kunst akzeptiert, so ist dies auch sicher eine solche…
31. Januar 2011 um 16:01 Uhr
REPLY:
kann ich akzeptieren, weil Christos Verpackungskunst meinen drei Kriterien entspricht und ich sie subjektiv auch als Kunst wahrnehme.
1. Februar 2011 um 13:23 Uhr
einfach mal davon aus, dass das Kunst ist (das Werk stammt ja von einem Künstler). Ich gehe davon aus, dass Kunst eine relevante Aussage über die Welt oder die Kunst machen sollte.
Also versuche ich jeweils, eine Lesart zu finden, die für mich Sinn macht. Ich stelle fest: Der Künstler wählt für sein Werk (eine Performance, glaube ich) Absperrband. Es wird zum Absperren von Baustellen und „Versiegeln“ von Tatorten einer kriminellen Handlung verwendet.
macht die ganze Brücke voll mit diesen Bänder: Hier bricht gewissermassen die reine Absperrhysterie aus – und zwar auf einem Verkehrsweg, der wie kein anderer „Verbindung“ symbolisiert.
Der Künstler ist ein Iraner und nur für kurze Zeit in der Schweiz. Ich frage mich: Erlebt er die Schweiz so? Erlebt er Luzern so? Also Gegend, die von einer Absperr-Hysterie besessen ist?
Ich mag Kunst, die keine eindeutigen Aussagen macht. Absperrband macht keine eindeutige Aussage: Es signalisiert zwar: „kein Zugang“. Aber man kann es leicht durschneiden, übersteigen und untendurch kriechen.
Dafür kann man sich leicht drin verheddern, wenn es in so grossen Mengen rumhängt…
Also: Die Deutungsmöglichkeiten sind vielfältig. Wir haben es mit Kunst zu tun.
Das Problem dieser Arbeit ist für mich bloss: Die Arbeit provoziert beim Bürger mit wenig Geduld für Kunst einen spontanen Abwehr-Reflex. Sie erreicht die meisten Leute gar nicht.
Ich finde, Kunst sollte eine Form der Kommunikation sein, die viele Menschen erreicht – gerade wenn sie an einem so bekannten öffentlichen Ort angebracht wird.
1. Februar 2011 um 14:36 Uhr
REPLY:
Da pflichte ich Ihnen bei, Frau Frogg, Kunst ist eine Form der Kommunikation — und oft kommuniziert sie mehrdeutig. Aber ich frage mich nach wie vor: Was will mir diese Kunstaktion sagen?
Der Künstler selber erklärt seine No Exit Luzern-Aktion so: „Der Luzerner Rathaussteg bildet im lokalen Kontext einen Ort kollektiver Identität. Die Hauptfunktion einer Brücke ist das Überspannen eines Hindernisses und die Verbindung zweier separater Einheiten. Damit bildet sie einen Ort des Übergangs und der Transformation. Die Sperrung der Brücke mit Hilfe des Bandes lässt sie in dieser Funktion einen Augenblick erstarren und überführt sie aus ihrem lokalen Kolorit auf eine abstrakte Ebene.“
Ich jedenfalls brauche keine Brückensperrung, um zu merken, dass Altstadt und Neustadt zwei separate Einheiten sind, die von einem Hindernis getrennt werden. Und um dies auf einer abstrakten Ebene nachzuvollziehen, genügt — meiner Ansicht nach — auch ein Stadtplan.
Last but not least ist heute in der Zeitung zu lesen, dass die Stadt Luzern Strafanzeige gegen die Galerie einreicht, und ich frage mich: War das wirklich nötig?
12. Februar 2011 um 16:23 Uhr
ein bisschen spät, aber ich schreibs trotzdem. Alain de Botton beschreibt in seinem relativ neuen Buch „The pleasures and sorrows of work“ auch über einen Künstler, der eine ganze Serie von Gemälden über eine mächtige, alte Eiche macht. Dann stellt er sie in einer Londoner Galerie aus, und eine Zahnärztin aus Milton Keynes kauft eines der Bilder.
De Botton schreibt: „Susan likes showing the work to friends. This has nothing to do with vaunting wealth or status. In a sense which is not entirely clear to her, she wishes to tell others that she is a bit like the painting. she has seen the tree before. It is the tre from her childhood… etc. etc.“
Like a modern, secular icon, the painting creates a magnetic field around itself, proposing a fitting attitude and code of conduct for its viewers … Occasionally, late at night, when the rest of the household is in bed, Susan will linger a few moments over the painting and feel herself subtly aligning with its personality and recovering thereby an amplified sense of her history and humanity.
Penguin Books, London, 2010,Seite 188.
Muss ich das jetzt wirklich übersetzen?
8. November 2018 um 19:02 Uhr
In der Kunst sind heute eigentlich fast keine Grenzen mehr gesetzt. Braucht die Kunst auch Grenzen ? Ab wann oder in welchen Bereichen braucht Kunst Grenzen ? Da scheiden sich die Geister.
Künstler Daniel Röösli aus Luzern.