Es ist schon ein etwas irres Unterfangen, an die Solothurner Filmtage zu fahren und eine Woche lang täglich vier bis fünf Filme reinzuziehen. Letztes Jahr lag ich nach Filmtagen eine Woche krank im Bett — und dennoch habe ich es wieder getan. Diesmal wurde ich, von den viereckigen Augen einmal abgesehen, wenigstens nicht krank. Dank Corona-Pandemie habe ich nun Zeit und Musse, angefangene Blogbeiträge fertigzustellen, z.B. diesen Bericht von einem Kinotrip sondergleichen.
Während 7 Tagen (An- und Abreisetag habe ich als einen Tag gezählt) habe ich 30 Programmblöcke besucht: 22 Dokumentarfilme, 7 Spielfilme und 1 Konzert. Dennoch habe ich von den fast 120 langen Filmen, die in Solothurn gezeigt wurden, gerade mal einen Viertel gesehen — viel mehr ist aber fast nicht möglich. Einigermassen einen guten Überblick habe ich über die 24 Filme gewonnen, die für den Prix de Soleure sowie den Prix du Public nominiert waren. Davon habe 7 bzw. 8 von 12 gesehen. Hier meine Solothurner Auswahl:
Schon letztes Jahr habe ich festgestellt, dass gewisse Themen immer wieder auftauchen und sich wie ein roter Faden das Programm ziehen — wahrscheinlich liegt’s daran, dass mich manches mehr interessiert und anderes weniger.
Vergangenheitsbewältigung
Vergangenheitsbewältigung ist so ein Thema: In Der Esel hiess Geronimo trauern ein paar Seeleute einer winzigen Ostseeinsel nach und fragen sich, warum sie so Krach bekamen, dass sie die Insel der Sehnsucht verlassen mussten. Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes: Ein Schweizer Umweltaktivist kämpft leidenschaftlich gegen die Abholzung des Regenwalds und für die Bewahrung des Lebensraums der nomadischen Penan. Er bezahlt seinen auf der globalen Ebene letztlich erfolgreichen Einsatz mit dem Leben. Nicht alles in diesem etwas rührseligen Spielfilm mit betörenden Naturbildern beruht auf historischen Fakten, aber es ist eine plausible Interpretation der Geschichte des „weissen Penan“.
Vergangenheitsbewältigung ist nicht nur Heidi Specognas Dokumentarfilm Tupamaros von 1997, der aufzeigt, wie die berühmteste Stadtguerilla Lateinamerikas gegen das brutale Militärregime in Uruguay kämpft, vorerst verliert, nach Jahren dann aber doch gewinnt, sondern auch Zeit der roten Nelken, ein Portrait von Nadja Bunke, der Mutter von Che Guevaras Kampfgefährtin Tania La Guerrillera. Ihr Rückblick auf die neunzig Jahre ihres Lebens ist keine gnadenlose Abrechnung, sondern Streifzug durchs 20. Jahrhundert aus der Sicht einer überzeugten Sozialistin. Im Nachhinein bereue ich es, das ich mir nur zwei dieser guten Dokumentarfilme aus der Sektion „Recontre“, der Retrospektive über das Filmschaffen der Schweizer Regisseurin Heidi Specogna, angesehen habe.
Als politisch interessierter Mensch, der seit 1999 in Luzern lebt, war ich gespannt auf Nach dem Sturm, ein Dokumentarfilm, der sich mit den Auswirkungen von 1968 auf die Zentralschweiz auseinandersetzt. Hier waren die gesellschaftlichen Verhältnisse besonders unverrückbar zementiert. Die Luzerner Krawallnacht im Januar 1969 markierte den Beginn grundlegender, kollektiver und individueller Veränderungen, die der Film in allen Verästelungen nachzuzeichnen versucht. Das ist durchaus interessant — ich habe einiges über das Luzern und die Innerschweiz vor meiner Zeit erfahren, aber insgesamt ist der Film zu lang und zu überladen. Ich glaube, die Filmemacher Beat Bieri und Jörg Huwyler haben sich schwer getan, einige der vielen guten Geschichten, die sie zusammengetragen haben, fallen zu lassen.
Wirtschaftshistorische Vergangenheitsbewältigung betreibt der Tessiner Filmemacher Erik Bernasconi mit seinem Film Moka noir – No More Coffee in Omegna, der die Entstehung und den Niedergang des Haushaltsindustrie-Clusters in der piemontesischen Stadt Omegna dokumentiert. Die Geschwister-Unternehmen wie Bialetti, Alessi und Piazza nutzten den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit und wurden weltbekannt. Mit ökonomischen Krisen, Generationswechseln, Globalisierung, Umsiedlungen und Arbeitskämpfen endeten die goldenen Jahre drastisch. Zurück bleibt eine grosse Leere in Form von verlassenen Fabriken, aber auch in den Herzen der lokalen Bevölkerung. Der schöne, etwas melancholische Schwarzweissfilm stellt die Frage nach dem Warum.
Die in London lebenden Exil-Iraker und -Irakerinnen in Samirs Spielfilm Baghdad in my Shadow werden von der unbewältigten Vergangenheit eingeholt oder gar heimgesucht. Samirs Exilanten-Thriller zeigt, wie unterschiedlich die Gäste, die im Café Abu Navas ihr zweites Zuhause gefunden haben, mit dem Schatten der Vergangenheit umgehen. Das Solothurner Publikum hat den Film zu Recht mit dem Prix du Public ausgezeichnet. Eher locker-flockig geht Micha Lewinskys Spielfilm Moskau Einfach! mit der Vergangenheit um: Der Fichenskandal von 1989 wird zum Hintergrund für eine Komödie à la Schweizermacher. Ein verdeckter Ermittler wird ins Schauspielhaus eingeschleust, um Informationen zu sammeln. Der Spitzel verliebt sich in eine Bespitzelte — was auf die Dauer natürlich nicht gut gehen kann, aber für gute Unterhaltung sorgt.
Hardcore-Vergangenheitsbewältigung sind die beiden Filme Who’s Afraid of Alice Miller? und À la recherche de l’homme à la caméra. Nach dem Tod der Psychologin Alice Miller macht sich ihr Sohn auf Spurensuche. Er will den Grund für seine von Gefühlskälte geprägte Kindheit verstehen. Dabei entdeckt er die dramatische Geschichte seiner jüdischen Mutter — eine packende und zugleich berührende Geschichte. Unendlich traurig und berührend ist auch die zweite Spurensuche: Die Tunesierin Boutheyna Bouslama macht sich auf die Recherche nach dem Kameramann, ihrem syrischen Jugendfreund Oussama. Auf der dreijährigen Odysee erlebt sie Phasen der Hoffnung, Angst, Entmutigung und Verzweiflung. Sie trifft Menschen, die den vermissten syrischen Medienaktivisten kannten und zeichnet das vielschichtige filmische Porträt einer unsichtbaren Person. Ihr Film hinterfragt die Macht des Kriegsbildes und seine Rolle als Erinnerung und Zeugnis von Kriegsverbrechen — und ist ein starkes Statement gegen die Praxis des Verschwindenlassens von Personen, um die eigene Zivilbevölkerung in Schach zu halten. Die Jury war beeindruckt und hat ihr und ihrer Genfer Produktionsfirma Close Up Films einstimmig den Prix de Soleure verliehen. Bravo!
Portraits
Auch eine Art Vergangenheitsbewältigung sind filmische Portraits, die sich mit dem Leben eines Menschen, seiner Biographie und seiner aktuellen Situation auseinandersetzen. In meiner Auswahl finden sich einige gelungene und überaus sehenswerte Portraits. Neben den bereits erwähnten Filmen über Bruno Manser und Nadja Bunke sind es:
- Silence Radio portraitiert die mexikanische Journalistin Carmen Aristegui, die 2015 von ihrem Radiosender entlassen wurde. Zielstrebig und furchtlos kämpfte sie darum, wieder auf Sendung gehen zu können, um ihr Millionenpublikum unbestechlich und unermüdlich über Korruption, mafiöse Strukturen und staatliche Misswirtschaft zu informieren — ein schwieriger und gefährlicher Kampf für den Fortbestand der Demokratie.
- Citoyen Nobel über den Chemie-Nobelpreis-Träger Jacques Dubochet dreht sich um die Frage, was ein Mensch, der schlagartig berühmt wird, bewirken und seine Verantwortung als Forscher und Mensch wahrnehmen kann. Für mich ein Highlight, das im Kampf gegen den Klimawandel Mut macht.
- Das letzte Buch zeichnet das ungewöhnliche Leben von Katharina Zimmermann nach. Es ist die Geschichte einer Pfarrfrau, die auf Mission im indonesischen Urwald neun Kinder grosszieht und sich trotz aller Widrigkeiten allmählich emanzipiert. Zurück in der Schweiz beginnt sie ein zweites Leben als Schriftstellerin.
- The Song of Mary Blane: Bruno Moll portraitiert den Solothurner Kunstmaler Frank Buchser, der 1866 in die USA geschickt wird, um im Berner Bundeshaus die „Helden des Bürgerkriegs“ zu malen. Während seine ursprüngliche Mission in den Hintergrund tritt, interessiert sich Buchser mehr und mehr fürs Leben der Native Americans und der eben befreiten Sklaven — eine tolle Geschichte über einen Solothurner.
- Plötzlich Heimweh ist ein hervorragendes Selbstportrait der chinesischen Filmemacherin Yu Hao. Anhand ihres Videotagebuchs eröffnet sie einen ganz neuen Blick aufs Appenzellerland und die Frage: Wo und was ist Heimat?
- Madame ist ein schonungsloses Selbstporträt und ein filmisches Coming-out des schwulen Filmemachers Stéphane Riethauser. Mit dem Portrait seiner 90-jährigen Grossmutter und Archivbildern zeigt er, wie schwierig es war, sich in einer gutbürgerlichen Familie allmählich seiner Homosexualität bewusst zu werden.
Familiensachen
Fast alle oben erwähnten Portraits drehen sich auch um das Thema Familie, sind doch Leben und Handeln einer Person ohne familiäres Umfeld kaum nachzuvollziehen. In vier Filmen meiner Solothurner Auswahl ist die Familie, das Familiäre im Fokus: Le milieu de l’horizon spielt auf einem Bauernhof in the middle of nowhere. Der 13-jährige Gus spürt, dass die sengende Hitze nicht nur die Tiere und Felder heimsucht, sondern auch das Verhalten der Erwachsenen um ihn herum beeinträchtigt. In wenigen Monaten erlebt Gus, wie seine Familie mit der traditionellen Bauernwelt seines Vaters in die Brüche geht. Ein trauriger, aber starker Film übers Erwachsenwerden. Al-Shafaq spielt in der Schweiz und im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Abdullah, der seinen Sohn Burak im „Heiligen Krieg“ verloren hat, trifft auf den syrischen Jungen Malik, der im selben Krieg seine ganze Familie verloren hat. Dieses zufällige Zusammentreffen stellt sich für beide als schicksalhafte Chance heraus. Ein überaus sehenswerter Film über die dramatischen Auswirkungen des Dschihad und des Syrienkriegs auf Familien hie wie dort.
Einen ganz anderen Blickwinkel auf die Familie hat der Dokumentarfilm Where we Belong: Fünf Scheidungskinder erklären ihre Situation aus ihrer Sicht, ihre Eltern kommen zwar vor, aber nur am Rand. Ein erhellender Einblick in eine nicht mehr heile Familienwelt. Weniger ernsthaft und etwas klamaukiger ist der Spielfilm Wir Eltern: Ein fortschrittliches und engagiertes Paar wird von ihren Kindern, die sich im Hotel Mama & Papa bequem gemacht haben und sich ums Familienleben foutieren, zur Weissglut getrieben. Das Blatt wendet sich erst, als die Eltern in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausziehen und ihren renitenten Nachwuchs dem Schicksal überlassen. Eine überspitzte Darstellung eines real existierenden Problems. Nur halbwegs ein Familienfilm ist Mon cousin anglais, denn der nach England emigrierte Algerier Fahed ist zwischen Stuhl und Bank geraten: Weder bei seiner Exfrau noch seinen WG-Kumpels hat er eine Ersatzfamilie gefunden, aber auch zurück in seiner Heimat in Algerien fühlt er sich fremd und in Sachen Familie will rein gar nichts klappen.
Und sonst?
Erstaunlich wenig habe ich zum Thema Arbeit und Veränderung der Arbeitswelt gesehen: Abgesehen vom bereits erwähnten Moka noir – No More Coffee in Omegna, der sich mit dem Untergang der norditalienischen Haushaltsindustrie beschäftigt, hat mir Taste of Hope von Laura Coppens recht gut gefallen. Er handelt von einer südfranzösischen Teebeutelfabrik, die von den Angestellten übernommen und in eine Genossenschaft umgewandelt wird, und von den Herausforderungen und Problemen, mit denen die genossenschaftlichen „JungunternehmerInnen“ konfrontiert sind: Es braucht z.B. plötzlich Fachleute, die ohne gute Bezahlung nicht zu bekommen sind, um die Produkte selber vermarkten zu können (vorher übernahm das der Mutterkonzern). Oder: Die lasche Arbeitshaltung einzelner MitarbeiterInnen mindert nicht mehr ein abstraktes Konzernergebnis, sondern schadet der eigenen Genossenschaft ganz konkret. Interessant war, dass in den flachen Hierarchien der genossenschaftlichen Teebeutelfabrik ganz ähnliche Probleme auftauchen wie im Kreuz Solothurn, das schon seit 1973 genossenschaftlich organisiert ist.
In scharfem Kontrast dazu steht die kalte und unbarmherzige Arbeitswelt, die Sabine Boss in ihrem Spielfilm Jagdzeit zeigt: Der brutale Machtkampf zwischen dem Finanzchef der Traditionsfirma Walser, die ums Überleben kämpft, und dem skrupellosen Turn-Around-Manager endet tödlich.
Durch das Corona-Virus erhält Master of Disaster von den deutschen Dokumentarfilmern Jörg Haassengier und Jürgen Brügger unerwartete Aktualität: Da spielen Blaulichtorganisationen und nationale Krisenstäbe kleine wie grosse Katastrophen durch. Die Spannweite reicht von der örtlichen Feuerwehrübung bis hin zu halben Weltuntergängen mit mehreren Tausend Teilnehmern und tausendseitigen Szenarien, die von spezialisierten Katastrophendesignern ausgeheckt werden. Ich hätte nicht gedacht, dass ihre abgründige Fantasie in nur zwei Monaten von der gespenstischen Realität einer weltweit grassierenden Pandemie überholt wird. Master of Disaster thematisiert auch die schleichende Erosion des Grundvertrauens in die Beherrschbarkeit der Welt und ihrer Probleme — dieser gesellschaftliche Vertrauensverlust, scheint mir, hat sich in Zeiten des Corona-Virus noch beschleunigt.
Fazit: Stimmungsvolle Filmtage mit vielen tollen Filmen, einer schönen Zeit im Kreuz Solothurn, das nicht nur ein hervorragende Basis für einen Festivalbesucher ist, sondern auch für mich auch ein Treffpunkt, wo ich alte Bekannte antreffe, und eine Gelegenheit, mit FreundInnen aus meiner Solothurner Zeit wieder einmal ausgiebig zu tratschen. Danke, liebes Kreuz!
22. Mai 2020 um 17:07 Uhr
Plötzlich Heimweh! von Yu Hao im SRF
Keine Ahnung, warum das Schweizer Fernsehen nicht die 79-minütige Originalversion eines Dokumentarfilms, sondern eine auf 52 Minuten zusammengekürzte Version zeigen muss. Anyway, das sehenswere 5-Sterne-Selbstportrait einer Chinesin, die Heimweh nach dem Appenzell hat, ist noch einige Tage auf SRF Sternstunde Kunst nachzusehen.