Die 7. Etappe meiner Vierwaldstätterseeumwanderung beginnt auf dem Rütli, einer idyllischen Wiese am Fuss hoher Felswände, die von den einen zur Wiege der Eidgenossenschaft hochstilisiert, von den anderen zu einer „ganz gewöhnliche Wiese mit Kuhfladen“ (Bundesrat Maurer) runtergemacht wird. Wenn’s darum geht, die Nation zu feiern, wird das Rütli zum Zankapfel der Nation.

Etappe 7: Rütli – Seelisberg – Beckenried


Meine 7. Etappe entspricht der 7. Etappe des Waldstätterwegs (auf der Karte die grün markiert). Vom Rütli bis Beckenried sind es knapp fünf Stunden auf einem meist wunderschönen Weg (Länge 13 km, Aufstiege/Abstiege je knapp 600 m). Hier nicht eingerechnet ist mein Lunch-Abstecher zum Seerestaurant Schwybogen (plus 1 km / 150 Höhenmeter runter und wieder rauf).

Spätestens seit Schiller den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft dramatisiert hat, gilt das Rütli als Wiege der Schweiz. Mit dem Rütlischwur haben der Legende nach 1291 hier die Vertreter der drei Urkantone ihr Verteidigungsbündnis geschlossen.

Stichwort 1: Rütli
Historisch nicht gesichert ist, dass der Rütlischwur überhaupt stattgefunden hat. Gemäss Wikipedia ist nicht bekannt, wann, wo und wie die Vertreter von Uri, Schwyz und Unterwalden den Beistandspakt besiegelt haben. Der Bundesbrief, der als Gründungsurkunde gilt, ist mit „Anfang August 1291“ datiert — denkbar und damals durchaus üblich, dass dieses Dokument auf das Todesjahr von Rudolf von Habsburg rückdatiert wurde. Als es 1891 darum ging, einen Tag als Bundesfeiertag festzulegen, wurde aus „Anfang August“ flugs der 1. August. Möglich also, dass 1291 auf dem Rütli die Eidgenossenschaft beschworen wurde, genau so möglich ist, dass es sich beim Rütli bloss um eine „Wiese mit Kuhdreck“ handelt, wie 2007 der damalige SVP-Chef und heutige Bundesrat Ueli Maurer polemisierte (vgl. BLICK vom 20.5.2007). Heiliger Kuhfladen! titelte dazu die NZZ am 25.5.2007. Ausgelöst wurde diese Polemik ums Rütli durch 600 Neonazis, die an der Bundesfeier von 2005 den Bundespräsidenten Samuel Schmid niederschrien haben. Seither braucht es für die Teilnahme Eintrittskarten, die man nur auf Voranmeldung bekommt. Trotzdem konnte die Bundesfeier auf dem Rütli 2006 nur unter massivem Polizeischutz stattfinden, was in der Folge nicht nur wegen der Kosten zu Diskussionen führte, die allerdings bald einmal verebbten.

«Jüngere Staaten brauchen alte Geschichten.»
Kurt Messmer, Historiker

Der Schillerstein wurde 1859 zum 100. Geburtstag von Friedrich Schiller errichtet — ein Denkmal für den deutschen Dichter des Schweizer Nationalepos.

HistorikerInnen, u.a. Kurt Messmer, Autor des 2018 erschienen Geschichtsbuchs Die Kunst des Möglichen, und auch Geschichte Schweiz, die neue Dauerausstellung im Landesmuseum Zürich, verlegen den Anfang der Eidgenossenschaft ins 15. Jahrhundert, als sich die Bündnisse der eidgenössischen Orte langsam verfestigten und ein politisches Gebilde entstand, das auch in der Geschichtsschreibung als eigenständig angesehen wird. Ebenso berechtigt ist die Ansicht, die moderne Schweiz, wie wir sie heute kennen, sei erst mit der Bundesstaatsgründung von 1848 entstanden. Deshalb treffe der Satz — Jüngere Staaten brauchen alte Geschichten — für die Schweiz gleich doppelt zu, zitiert der letztjährige Erstaugust-Artikel der „Schweiz am Wochenende“ vom 29.7.2018 den Historiker Kurt Messmer. Zu dessen Hypothese passt, dass die Tellsgeschichte und der Rütlischwur in einer Chronik des Obwaldner Landschreibers Hans Schriber erstmals auftauchen. Diese zwischen 1470 und 1472 entstandene Chronik im Weissen Buch von Sarnen ist wohl nur eine erste Niederschrift mündlicher Erzählungen, die sich aber historisch nicht belegen lassen. Seine grosse Wirkung entfaltete das Weisse Buch von Sarnen erst später durch die Publikationen des Chronisten Petermann Etterlin (1507) und des Historikers Aegidius Tschudi (1734 bis 1736), vor allem aber durch Friedrich Schillers Drama (1804) und Gioachino Rossinis Oper (1829).

Ob der Eid auf dem Rütli tatsächlich geschworen wurde, ist egal, denn nach wie vor ist das Rütli ein Symbol für die alte und die neue Schweiz.

Noch deutlicher lässt sich Messmers Hypothese anhand der Bundesstaatsgründung von 1848 belegen: Um den Bau eines Hotels auf dem Rütli zu verhindern, sammelte die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) 1859 Geld, kaufte damit das Gelände und schenkte es der Schweizerischen Eidgenossenschaft unter dem Vorbehalt der Verwaltung durch die SGG. So wurde das Rütli, das alte Symbol für die Gründung der alten Eidgenossenschaft, zwölf Jahre nach dem Sonderbundskrieg zum Symbol des neu entstandenen liberalen Bundesstaates (vgl. Wikipedia). Die katholische Innerschweiz hatte allerdings den Bundesstaat abgelehnt, deshalb versuchte man schon bald, die Innerschweiz mental einzubinden. Rund um den See wurden dann «die mythischen Anfänge der Eidgenossenschaft» inszeniert: 1860 das Rütli, 1864 das Winkelried-Denkmal in Sempach, 1865 das von Stans, die Tellskapelle folgte 1882 und das Telldenkmal in Altdorf 1895.


SRF-Tagesschau vom 25.7.2015 zu 75 Jahre Rütlirapport: 1940 nutzte General Guison den symbolträchtigen Ort, um den Offizieren seine Reduit-Strategie zu verkaufen und um den politischen Widerstand gegen Hitlers Bedrohung zu stärken. 2015 ist Bundesrat Ueli Maurer, der acht Jahre zuvor das Rütli noch zur gewöhnlichen Wiese mit Kuhdreck degradiert hatte, als Verteidigungsminister überzeugt, dass solche Symbole Teil unserer Geschichte und Identität sind, an die man gedanklich gut anknüpfen könne.

Das Seerestaurant Schwybogen ist nur zu Fuss oder mit dem Boot zu erreichen.

Stichwort 2: Schwybogen
Dass ich dieses Idyll in einer geschützten Bucht am Vierwaldstättersee entdeckt habe, ist dem Umstand geschuldet, dass das Restaurant Volligen (mit superschöner Aussichtsterrasse) Betriebsferien hatte und ich mich nach einer Alternative umsehen musste. Schon hatte ich mich damit abgefunden, dass ich nach Treib absteigen muss, um zum wohlverdienten Lunch zu kommen, aber dann sah ich am Strassenrand ein Schild, das auf das Seerestaurant Schwybogen hinwies. Da mir ein Abstieg zum See und ein Wiederaufstieg zum Waldstätterweg so oder so bevorstand, entschied ich mich für das Restaurant, das in meiner allgemeinen Wanderrichtung lag: den Schwybogen. Nach 800 Metern auf einem asphaltierten Feldweg auf einer Geländeterrasse folgt ein Fahrverbotsschild mit dem Hinweis, dass es von da nur noch zu Fuss weitergeht. Bald darauf windet sich der Weg steil abwärts in eine Bucht hinunter, an deren Ufer das Seerestaurant steht. Quel Surprise an dieser abgelegenen Ecke des Vierwaldstättersees! Der Schwybogen ist ein Familienbetrieb mit Tradition: Seit Generationen betreibt die Familie Näpflin hier eine Fischerei und ein Gasthaus, das nur im Sommer offen hat. Das Restaurant mit der lauschigen Terrasse am See und den feinen Fischspezialitäten aus eigenem Fang ist ein Geheimtipp nicht nur für Leute, die zu Fuss unterwegs sind, sondern auch für die vielen Böötlibesitzer, die direkt vor der Gartenbeiz anlegen können. Ich jedenfalls bin sicher nicht zum letzten Mal da gewesen.

Der gut 3 km lange Lehnenviadukt der A2 zieht sich gut sichtbar dem Hang entlang.

Stichwort 3: Autobahn A2
Auf meiner Tour rund um den Vierwaldstättersee bin ich immer wieder auf gewaltige Verkehrsinfrastrukturbauten gestossen — was angesichts der Tatsache, dass die wichtigste Alpentransitroute der Schweiz hier entlang läuft, nicht weiter verwunderlich ist. Mir scheint, das Trassee der Gotthardbahn, obwohl auch eine Bahnlinie ein trennendes Element ist, sei besser in die Landschaft eingebettet als die Autobahn A2. Das liegt wohl daran, dass die Bahnbauten schon älter und besser eingewachsen sind, aber auch daran, dass sie weniger breit sind und deshalb auch einfacher durch die Berghänge gebaut werden konnten als Autobahnen. Sowohl Bahn als auch Strasse untertunneln ganz steile Stellen, wie z.B. die Axenfelsen am Urnersee. An weniger steilen Hängen, wie z.B. in der Nidwaldner Gemeinde Beckenried, wurde die Autobahn oberirdisch gebaut und verläuft weithin sichtbar dem Hang entlang. Da es sich um einen geologisch problematischen Kriechhang handelt, musste dieser Hang zuerst aufwändig stabilisiert werden, bevor der über 3 km lange Lehnenviadukt erstellt werden konnte, dessen Pfeiler auf festem Felsgrund fundieren. Fast überall, wo die Autobahn oberirdisch gebaut wurde, handelt es sich um massive Eingriffe in die Landschaft bzw. ins Siedlungsgebiet. In Stansstad beispielsweise führt die A2 mitten durchs Dorf — die Autobahnschneise zerschneidet die an sich attraktiv gelegene Ortschaft in zwei Teile.

Wandern unter der A2: Der 3 km lange Lehnenviadukt beginnt beim Tunnelportal des Seelisbergtunnels.

Die A2, oft auch Gotthard-Autobahn genannt, ist fast 300 Kilometer lang und führt von Basel bis nach Chiasso. Sie wurde in den 50er Jahren als Teil des Nationalstrassennetzes beschlossen, in den 60er und 70er Jahren geplant und gebaut und ist seit der Fertigstellung des letzten Teilstücks in der Leventina 1986 durchgehend befahrbar. Die Autobahn ist nicht nur ein weit herum sichtbarer Eingriff in die Landschaft und menschliche Siedlungen, sondern bringt auch massive ökonomische und ökologische Auswirkungen mit sich: Dörfer werden zwar durch die A2 vom Durchgangsverkehr entlastet, manche leiden aber dann unter dem ausbleibenden Fremdenverkehr. Gütertransporte auf den Autobahnen, auch der alpenquerende Transitverkehr auf der A2, werden als notwendiges Übel einer florierenden Wirtschaft hingenommen. Aber nur wenige Jahre nach der Eröffnung der A2 haben der LKW-Verkehr auf der Gotthardroute und die damit verbundenen Emissionen ein Ausmass angenommen, das für die betroffenen AnwohnerInnen, insbesondere aber für die betroffenen Bergtäler nicht mehr tolerabel ist. Deshalb kämpft die Alpen-Initiative seit 30 Jahren für die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene (vgl. Weg der Schweiz 1, Stichwort Alpenquerender Verkehr).

Rechts: eine Tafel des Erlebnispfads Raumplanung zum Thema Rückzonungen

Nicht jede Gemeinde und jedes Dorf braucht einen eigenen Autobahnanschluss, aber das Fehlen einer guten Anbindung ans Verkehrsnetz ist auch problematisch, wie die Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung von Bauen (vgl. Weg der Schweiz 2, Stichwort Amtszwang) oder die Entwicklung der Gemeinde Seelisberg (vgl. Weg der Schweiz 2, Stichwort Erleuchtung in Seelisberg) zeigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Tafel des Erlebnispfads Raumplanung am Wanderweg nach Volligen: In diesem Seelisberger Weiler wurde darauf spekuliert, dass die Autobahnausfahrt Seelisberg in der Nähe realisiert werde. Als klar wurde, dass die A2 hier keine Ausfahrt bekommt, sondern durch ein langes Tunnel unter Seelisberg hindurchgeführt wird, musste die zu grosse Bauzone in Volligen schrittweise zurück gezont werden.

Fazit

Das Rütli ist — wie sich bei meinem Besuch zeigt — weder eine ganz gewöhnliche Wiese mit Kuhdreck noch die heilige Geburtsstätte der Eidgenossenschaft, aber ein stiller Ort mit grosser Symbolkraft und geschichtsträchtiger Ausstrahlung. Die Wanderroute, die oft auf Geländeterrassen über dem See verläuft, bietet einige Überraschungen, wie z.B. den schönen Ausblick an der Ecke, wo der Vierwaldstättersee in den Urnersee übergeht, die abgelegene Bucht mit dem Seerestaurant Schwybogen oder die wilde Risletenschlucht, die fotografisch kaum einzufangen ist. Schliesslich ist die Gotthardautobahn immer ein Thema: in Seelisberg, weil die Gemeinde von der A2 kaum profitiert, in Beckenried, weil die A2 so präsent ist und das Landschaftsbild dominiert.

⇒ Mein Beitrag über Etappe 6 von Flüelen nach Seelisberg: Weg der Schweiz 2
⇒ NZZ vom 12.4.2019 über die neue Dauerausstellung im Landesmuseum Zürich: Die späte Geburt der Schweiz
⇒ Die wilde Risletenschlucht ist es schon für sich ein Besuch wert, deshalb hier ein alternative Wanderung: Beckenried – Risletenschlucht – Treib
⇒ Bis auf wenige Lücken ist das schweizerische Autobahnnetz fertiggestellt. Dennoch wird überall gebaut: Wichtige Baustellen und Projekte auf den Nationalstrassen
⇒ Auf Drängen der Alpen-Initiative publiziert das ASTRA erstmals eine Statistik zu Schwerverkehrskonrollen
⇒ Gefunden: Eine lesenswerte Web-Reportage von Susan Boos (Text) und Fabian Biasio (Videos, Fotos) auf www.alpeninitiative.ch Leben in der Kabine
⇒ Das Rütli auf stories & places